51 ! Frühling-Erwartung

Ins Innre des Menschenwesens

Ergießt der Sinne Reich­tum sich,

Es find­et sich der Weltengeist

Im Spiegel­bild des Menschenauges,

Das seine Kraft aus ihm

Sich neu erschaf­fen muss.

Das Mantra 51 ! hat statt des Buchstabens eine Überschrift

Das Mantra 51 ! (von mir mit einem “!” verse­hen) ist mit Früh­ling-Erwartung über­schrieben. Erwartung ist eine See­len­hal­tung, die dem Zukün­fti­gen, dem, was noch nicht da ist, nicht sicht­bar, nicht ver­ständlich ist, Raum gibt. Was will da früh­ling­shaft neu erblühen? Kein christlich­es oder son­stiges Fest liegt in dieser Woche und gibt einen Hin­weis, warum dieses Mantra mit ein­er Über­schrift gekrönt ist. Diese Ausze­ich­nung haben im See­lenkalen­der nur die vier großen Feste erhal­ten: 1 A Oster-Stim­mung, 12 ! Johannes-Stim­mung (eben­so ohne Buch­staben und deshalb von mir mit “!” verse­hen), 26 Z Michaeli-Stim­mung und 38 m Wei­he-Nacht-Stim­mung. Das Mantra 51 ! tritt damit als fün­ftes und let­ztes in den Reigen der vier großen Feste. Seine Lage offen­bart eine Gemein­samkeit mit zwei anderen Mantren: Die Mantren 12 !, 38 m und 51 ! sind jew­eils die vor­let­zten ihres Viertel­jahres von 13 Wochen. Die Mantren 1 A Oster-Stim­mung und 26 Z Michaeli-Stim­mung sind dage­gen das erste und let­zte Mantra des Som­mer-Hal­b­jahres; sie rah­men das Hal­b­jahr ein.

Was zeigt sich darin? Statt ein­er schnellen Antwort will ich noch zwei weit­ere Beobach­tun­gen hinzufü­gen. Sie betr­e­f­fen zum einen die gemein­same Gestalt der vier Jahres­feste, die sich durch ihre Lage im See­lenkalen­der zeigt, zum anderen den charak­ter­isieren­den Zusatz in der Überschrift.

Das Fes­tkreuz der vier christlichen Feste

Im inneren Bild ste­hen vier christliche Feste wie ein Kreuz im Jahres­lauf. Diese sind Wei­h­nacht­en, Ostern, Johan­ni und Michaeli. Die zuge­höri­gen Mantren wer­den durch den Zusatz der jew­eili­gen Fest-Stim­mung gekennze­ich­net. Doch bei genauer­er Betra­ch­tung bilden diese vier Mantren nicht das Kreuz ab, das sich im inneren Bild zeigt. Im See­lenkalen­der ist es nicht so, dass sich Michaeli und Ostern gegenüber­ste­hen, wie es das innere Bild ver­langt. Und auch Johan­ni und Wei­h­nacht­en find­en sich nicht exakt einan­der gegenüber. Die Gegenüber­stel­lung wird im See­lenkalen­der durch den gle­ichen Buch­staben angezeigt. Das dem Oster-Mantra 1 A gegenüber­ste­hende Mantra ist jedoch das Mantra 27 a, das auf die Michaeli-Woche 26 Z fol­gt. Und dem Mantra 38 m, das durch seine Über­schrift der Wei­he-Nacht-Stim­mung gewid­met ist, liegt das Mantra 13 M gegenüber, nicht das Mantra 12 !, das aber die Über­schrift Johannes-Stim­mung erhal­ten hat. (In der See­lenkalen­der Aus­gabe von 1925 ist die Zuord­nung der Buch­staben und dadurch die Gegenüber­stel­lung anders. Zur Prob­lematik dieser Aus­gabe siehe: Gut zu wis­sen.) Es muss sich also etwas wichtiges ver­ber­gen hin­ter dieser dem spon­ta­nen inneren Bild wider­sprechen­den “Unstim­migkeit”. Wofür sollen wir wachgerüt­telt werden?

Vier­mal “Stim­mung” — ein­mal “Erwartung”

In der Über­schrift der vier großen Feste heißt es “Stim­mung”, nur die Über­schrift des Mantras 51 ! lautet “Erwartung”. Was ist das Kom­mende, das hier erwartet wird? Was ver­birgt sich wirk­lich hin­ter dem Bild des Früh­lings, der Früh­ling-Erwartung? Hängt mit diesem Neuen auch das Auf­brechen des sta­tis­chen Fes­tkreuzes zusam­men? Rudolf Stein­er spricht von vier Prinzip­i­en, die bere­its auf der Erde ver­wirk­licht sind. Es sind die vier Wesens­glieder. Das fün­fte Prinzip ist das Kom­mende, das Rudolf Stein­er das Geist­selb­st nen­nt (GA 97, S. 57). Auf der Erde wird dieses Wesens­glied ver­an­lagt, entwick­elt wer­den die damit neu hinzuk­om­menden Fähigkeit­en erst wirk­lich in der fol­gen­den Erdinkar­na­tion, auf dem neuen Jupiter. Dieses fün­fte Prinzip bringt wiederum das sech­ste, den Lebens­geist her­vor. Rudolf Stein­er sagt es so: “Wie Chris­tus in die Welt trat, läßt sich fol­gen­der­maßen erken­nen. Das sech­ste Prinzip, die Bud­dhi, ist geboren aus dem fün­ften, wenn dieses zur vollen Höhe gelangt ist, aus dem Geist­selb­st oder Man­as, oder wie die Griechen damals das fün­fte Prinzip nan­nten, aus der Sophia. Alle Gnos­tik­er, die sich zum Sinne des Johannes-Evan­geli­ums bekan­nten, nan­nten die Mut­ter Jesu «Sophia». Durch das Erscheinen Jesu wird der Erde das sech­ste Prinzip gebracht.” (GA 97, S. 58f)

Die Sophia kann ich als Urbild der men­schlichen Seele betra­cht­en. Dieses Urbild gliedert sich deshalb eben­so in Denken, Fühlen und Wollen, wie die Men­schenseele. — Und ger­ade drei der Mantren mit Über­schrift zeigen eine Gemein­samkeit. Sie liegen an 12. Stelle ihres Viertel­jahres: 12 !, 38 m, 51 !. Jedes dieser Mantren zeigt eine See­len­fähigkeit beson­ders akzen­tu­iert. Das Johan­ni-Mantra 12 ! zwingt mich durch den Wel­ten Schön­heits­glanz. Es zeigt die Wil­len­skraft der Sophia. Im Wei­h­nachts-Mantra 38 m füh­le ich das Geis­te­skind im See­len­schoß und erlebe das Fühlen der Sophia. Diese bei­den See­len­fähigkeit­en sind bere­its entwick­elt. Sie sind „Stim­mung“, sie herrschen und umgeben uns zur Fes­teszeit. Im Fes­tkreuz bilden sie die fast senkrecht ste­hende Achse. Die dritte See­len­fähigkeit ist noch nicht ver­wirk­licht. Sie wird erst erwartet. Im Mantra 51 ! „Früh­ling-Erwartung“ ergießt sich der Sinne Reich­tum ins Innere des Men­schen­we­sens. Der Wel­tengeist find­et sich im Spiegel­bild des Men­schenauges. Doch dieses Auge muss sich seine Kraft erst wieder neu erschaf­fen. Erken­nen, denken ler­nen muss die Sophia, die Seele der Men­schheit, wieder neu ler­nen. Und mit ihr und durch sie wird sich die Men­schheit ein neues Bewusst­sein erwer­ben kön­nen, — ein Bewusst­sein, das die Kraft haben wird, den Wel­tengeist zu schauen.

Die zwei weit­eren Mantren mit Über­schrift bilden die waagerechte Achse des Fes­tkreuzes. Sie haben nicht mit Viertel­jahren zu tun, son­dern mit der nächst größeren Ein­heit, ein­er Jahreshälfte: das Oster- und das Michaeli-Mantra umschließen das ganze Som­mer-Hal­b­jahr. Sie umfassen damit auch ein ganzes Alpha­bet — von 1 A bis 26 Z. Sie ste­hen für Anfang und Ende, was im griechis­chen Alpha­bet Alpha und Omega waren. In der Offen­barung des Johannes sagt Chris­tus von sich: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Let­zte, der Ursprung und das Ziel.” (Offen­barung 22:13) Diese bei­den Mantren sind Ursprung und Ziel des Som­mer-Hal­b­jahres. Indem sie das ganze Alpha­bet umschließen, offen­baren sie ihre Beziehung zum Logos, zum Christus.

Die Augen der Vogelgöttin

Manche Darstel­lun­gen der bronzezeitlichen Vogel­göt­tin (erkennbar an der schn­abelar­ti­gen Nase und fehlen­dem Mund) zeigen ganz beson­ders gestal­tete Augen. Diese Beispiele zeigen, dass die Men­schen der Bronzezeit ihrer großen Mut­tergöt­tin eine ganz beson­dere Fähigkeit des Sehens zus­prachen. In dem einen Beispiel wer­den dreieck­ige Augen von hal­bkre­is­för­mi­gen Augen­brauen begleit­et, im anderen Beispiel sind die Augen sel­ber Hal­bkreise. Beson­ders die Hal­bkreis-Augen erin­nern an Hal­b­jahre. Sieht die Göt­tin also durch die Halbjahre?

Die Striche, die bei bei­den Darstel­lun­gen von ihren Augen her­abführen, haben eine lange Tra­di­tion. Beson­ders deut­lich wird der dahin­ter zu ver­mu­tende Ideenge­halt durch eine aus der Alt­steinzeit (um 24.000 v. Chr.) stam­mende Venus­fig­urine (s. Abb. unten). Diese Frauen­stat­uette zeigt, wie Ströme aus den strich­för­mi­gen Augen über ihre üppi­gen Brüste rin­nen. Dadurch wird das Trä­nen­wass­er mit der nähren­den Milch der Brüste ver­bun­den. Das bedeutet nicht, dass sie so trau­rig ist, son­dern dass sie äußer­lich den Regen und den Tau spendet, die das Leben ermöglichen und nähren — und es bedeutet fern­er, dass mit diesem Lebensstrom auch die klar­sichtige Weisheit ihrem Blick entströmt, die alles nach göt­tlich­er Vorstel­lung formt und ordnet.

Dadurch wird erkennbar, dass die Göt­tin durch den som­mer­lichen und win­ter­lichen Prozess des Jahres Erken­nt­nis gewin­nt. Indem sie im Jahres­lauf ihr Wirken sicht­bar macht, gewin­nt sie gle­ichzeit­ig Erken­nt­nis — sie sieht mit Hil­fe der Jahreshälften.

Die Augen der Vogel­göt­tin, bei­de Darstel­lun­gen aus der Vin­cakul­tur, Ser­bi­en, 5000 — 4500 v. Chr.

Die Frauen­stat­uette aus der Alt­steinzeit ist aus Ton geformt, dem Knochen­mehl beigemis­cht wurde. Schon damals drück­te der Knochen zusam­men mit der weißen Farbe geble­ichter Knochen Tod aus. Die Fig­ur macht dadurch deut­lich, wie aus dem Tod das neue Leben entspringt. Und dieses Leben entströmt ihren Augen!

Große Mut­ter aus Ton und Knochen­mehl, Mähren um 24.000 v. Chr., 11cm

Ähn­lich wie die Venus von Wil­len­dorf (siehe 46 u) lässt auch diese Fig­ur durch ihr run­des Beck­en an einen Jahreskreis denken. Der ger­ade waagerechte Strich unter ihrem Nabel entspricht der Hal­b­jahresteilung, die Brüste liegen im Som­mer-Hal­b­jahr, die Schenkel im Win­ter-Hal­b­jahr. Doch über dem Som­mer-Hal­b­jahr erhebt sich ihr Kopf. Wie von außen, aus dem Kos­mos, strömt in ihren Jahres­lauf-Leib das nährende Leben. Die gestal­tend-sehende Weisheit entquillt ihren Augen als ein ein­heitlich­er Strom, der sich mit den Brüsten teilt. Jedes höhere Lebe­we­sen ist entwed­er männlich oder weib­lich und verkör­pert dadurch nur eine Hälfte sein­er Spezies.

Wahrnehmung, Schmerz und Bewusstsein

Die Trä­nen­flut der obi­gen Göt­tin­nen weist außer­dem auf die mit Schmerz ein­herge­hende Entste­hung des wahrnehmenden Bewusst­seins hin, wie Rudolf Stein­er es beschreibt: „Alles das, wom­it das Bewußt­sein begin­nt, ist ursprünglich Schmerz. Wenn das Leben sich nach außen öffnet, wenn ein­er lebendi­gen Wesen­heit Licht, Luft, Hitze, Kälte ent­ge­gen­treten, dann wirken diese äußeren Ele­mente zunächst auf das lebendi­ge Wesen. Solange diese Ele­mente aber nur auf dieses lebendi­ge Wesen wirken, solange sie von diesem lebendi­gen Wesen aufgenom­men wer­den, wie sie von der Pflanze als Träger von inneren Lebensvorgän­gen aufgenom­men wer­den, solange entste­ht kein Bewußt­sein. Bewußt­sein entste­ht erst dann, wenn diese äußeren Ele­mente in Wider­spruch treten mit dem inneren Leben, wenn eine Zer­störung stat­tfind­et. Aus der Zer­störung des Lebens muß das Bewußt­sein erfließen. Ohne teil­weisen Tod wird ein Licht­strahl in ein lebendi­ges Wesen nicht ein­drin­gen kön­nen, wird in dem lebendi­gen Wesen nie der Vor­gang angeregt wer­den kön­nen, aus dem das Bewußt­sein entspringt. Wenn aber das Licht in die Ober­fläche des Lebens ein­dringt, dann eine teil­weise Ver­wüs­tung anrichtet, die inneren Stoffe und Kräfte nieder­reißt, dann entste­ht jen­er geheimnisvolle Vor­gang, der sich über­all in der Außen­welt in ganz bes­timmter Weise abspielt. Stellen Sie sich vor: Die intel­li­gen­ten Kräfte der Welt wären zu ein­er Höhe emporgestiegen, daß das äußere Licht und die äußere Luft ihnen fremd gewor­den wären. Nur eine Zeit­lang blieben sie mit ihnen in Ein­klang, dann ver­vol­lkomm­neten sie sich selb­st, wodurch ein Wider­spruch ent­stand. Kön­nten Sie mit den Augen des Geistes diesen Vor­gang ver­fol­gen, so kön­nten Sie sehen, wie da, wo sich in ein­fache Wesen ein Licht­strahl ein­drängt, die Haut etwas umgestal­tet wird und ein winziges Auge entste­ht. Was ist es nun, was da in der Materie zuerst aufdäm­mert? In was drückt sich diese feine Zer­störung aus, denn eine Zer­störung ist es, was dabei vor sich geht? Es ist der Schmerz, der nichts als ein Aus­druck für diese Zer­störung ist. Über­all, wo das Leben der äußeren Natur ent­ge­gen­tritt, find­et Zer­störung statt, die, wenn sie größer wird, selb­st den Tod her­vor­bringt. Aus dem Schmerz wird das Bewußt­sein geboren. Der­selbe Prozeß, der Ihr Auge geschaf­fen hat, wäre ein Zer­störung­sprozeß gewor­den, wenn er an dem Wesen, das sich in dem men­schlichen Wesen her­auf entwick­elt hat, über­hand genom­men hätte. So hat er aber nur einen kleinen Teil ergrif­f­en, wodurch er aus der Zer­störung, aus dem par­tiellen Tod her­aus jene Spiegelung der Außen­welt schaf­fen kon­nte, die man das Bewußt­sein nen­nt. Das Bewußt­sein inner­halb der Materie wird also aus dem Lei­de, aus dem Schmerz geboren.“ (Lit.: GA 55, S. 80f Her­vorhe­bun­gen A.F.)

Was sagt das Mantra 51 ! Frühling-Erwartung?

Das ganze Mantra 51 ! ist in der neu­tralen drit­ten Per­son ver­fasst. Ein Prozess ist darin beschrieben, zu dem der Men­sch gehört, der aber, ähn­lich wie der Jahres­lauf, unab­hängig von der Präsenz und Aktiv­ität des Men­schen stattfindet.

Das Mantra sagt: der Reich­tum der Sinne, die Summe aller Wahrnehmungen, ergießt sich in das Innere des Men­schen­we­sens. Rudolf Stein­er spricht davon, dass wir zwölf Sinne, zwölf Wahrnehmungs­bere­iche unter­schei­den kön­nen. Diese zwölf Sinne schenken dem Men­schen einen umfassenden Reich­tum an Wahrnehmungen. Schon wenn ein einzel­ner Sinn geschwächt ist, wird großer Man­gel erlebt. Auch wenn die meis­ten Wahrnehmungen unter der Bewusst­seinss­chwelle bleiben, gle­icht die Gesamtheit der Wahrnehmungen ein­er unun­ter­broch­enen, großen Flut. Sog­ar nachts haben wir Wahrnehmungen von Tast- und Wärmeempfind­un­gen. Auch das Ohr lauscht. Wer­den einem Men­schen unfrei­willig so gut wie alle Sin­nes­reize ent­zo­gen, treten Angstzustände und Hal­luz­i­na­tio­nen auf. Wir sind angewiesen auf das unun­ter­broch­ene Ein­strö­men von Wahrnehmungen. Dieser gewaltige Reich­tum ergießt sich in das Innere des Men­schen­we­sens. Dieser Sinnes-Reich­tum ergießt sich in den Kör­p­er und bewirkt die phys­i­ol­o­gis­che Erre­gung der Ner­ven. Er strömt in die Seele und ver­set­zt sie in Schwingung zwis­chen sym­pa­this­ch­er oder antipathis­ch­er Reak­tion. Und schließlich fließt er in den Geist und bildet die Grund­lage der Erken­nt­nis. Durch die Sinne wird Außen­welt zu Innen­welt. Der Reich­tum an Wahrnehmungen ergießt sich, — er fließt wie ein kräftiger Strom. Das Bild eines kräftig strö­menden Flusses entste­ht. So wie Wass­er und Leben zusam­menge­hören, sind auch Wahrnehmung und Leben nicht voneinan­der zu tren­nen. Es gibt keinen lebendi­gen Organ­is­mus, der nicht auch ein wahrnehmender wäre!

Soweit ist das Mantra gut ver­ständlich — doch dann? Indem sich die Sinneswahrnehmung in das ganze Men­schen­we­sen ergießt, die Außen­welt zur Innen­welt wird, find­et sich der Wel­tengeist im Spiegel­bild des Men­schenauges. Wie lässt sich das nachvol­lziehen? Kann ich bemerken, dass der Wel­tengeist, — der Geist­ge­halt der Welt, ihr geistig-wesen­haftes Sein — sich in mir, im Spiegel­bild meines Auges find­et? Wie kann sich der Wel­tengeist in einem Bild, noch dazu in einem Spiegel­bild find­en, — befind­en, zu find­en sein -, welch­es ja ger­ade nicht das Ursäch­liche ist?

Vielle­icht so: die Wahrnehmung ermöglicht es dem Men­schen, Vorstel­lun­gen zu bilden. Eine Vorstel­lung ist ein Bild, ein Spiegel­bild der Welt, das der Men­sch geistig vor sich hin­stellt. Eine Vorstel­lung ist aber auch eine geistige Schöp­fung. Ist mit diesem Spiegel­bild des Men­schenauges vielle­icht diese Vorstel­lung gemeint? Eine Vorstel­lung ist nach Rudolf Stein­er ein auf eine bes­timmte Wahrnehmung bezo­gen­er und dadurch indi­vid­u­al­isiert­er Begriff (GA 4, S. 107), der dem Gedächt­nis eingeprägt wird. In der Vorstel­lung ist das Ver­ständ­nis schon inbe­grif­f­en. Der Wel­tengeist, als Gesamtheit der in allem Sein enthal­te­nen Weisheit, ist dadurch auch in der Vorstel­lung enthal­ten — im Spiegel­bild des Men­schenauges. Er wird darin sicht­bar. Er ist mit jed­er men­schlichen Vorstel­lung ver­bun­den und find­et sich darin, weil die Geistigkeit, die den Men­schen ver­ste­hen lässt, nicht getren­nt gedacht wer­den kann von der Weisheit, die sich in der Welt offen­bart – im ver­lebendigten geometrischen Auf­bau der Blüten, im Weisheit offen­baren­den Gle­ichgewicht in der Natur usw.

Das Auge ste­ht hier stel­lvertre­tend für alle anderen Sinne. Durch die Wahrnehmung kann sich der Men­sch die in der Welt vorhan­dene Weisheit nach und nach erschließen. Und dadurch kann auch der Wel­tengeist als die hin­ter dieser Weisheit wirk­ende, es ger­ade so und nicht anders wol­lende Kraft gefun­den wer­den. Rudolf Stein­er sagt: “<Er> ist das Kraft­wort für den Wel­tenwillen, den Wel­tengeist, dessen Wille aus sich selb­st wirkt, während der men­schliche Wille durch die äußere Welt zum Wirken bes­timmt wird. Dieser <Er> ist die schaf­fende Urkraft.” (GA 245, S. 47)

Das Organ, was zu dieser Geist­wahrnehmung fähig ist, ist das Stirn­chakra, das dritte Auge. In diesem Men­schenauge find­et sich der Wel­tengeist gespiegelt. Doch hat das dritte Auge im Laufe der Men­schheit­sen­twick­lung seine Sehkraft ver­loren, die alte Hell­sichtigkeit ist verdäm­mert, der Spiegel ist stumpf gewor­den. Der Wel­tengeist find­et sich hier nach wie vor. Das Mantra spricht hier von ein­er Tat­sache, dass sich der Wel­tengeist im Spiegel­bild des Men­schenauges find­et. Doch dieses Auge hat für die meis­ten Men­schen seine Sehfähigkeit ver­loren, es ist erblindet.

Das Auge muss sich seine Kraft neu erschaf­fen. Hier find­et sich ein Para­dox, denn diese Sehkraft muss aus eben der ver­lore­nen Wahrnehmung des Wel­tengeistes geschaf­fen wer­den. Wie geht das? So wie ein Blind­er sich durch Erzäh­lun­gen der Sehen­den ein Bild der sicht­baren Welt machen muss, so ist der geistig blind gewor­dene Men­sch darauf angewiesen, Schilderun­gen eines Wis­senden aufnehmen und in sich lebendig zu machen. Er muss zunächst die in der Welt wal­tende Weisheit durch andere ken­nen ler­nen und aufmerk­sam wer­den auf das, was über die physis­che Sinneswahrnehmung hin­aus geht.

Wie die Vogel­göt­tin u.a. deut­lich macht, hat­te die Men­schheit in alter Zeit eine natür­liche Hell­sichtigkeit. Doch diese verdäm­merte laut Rudolf Stein­er 3101 v.Chr. durch oder mit dem Beginn des Kali Yuga, des dun­klen Zeital­ters, das 5000 Jahre dauerte und 1899 endete. Nun ist es Auf­gabe der ganzen Men­schheit, die geistige Sehkraft wieder zu erwerben.

Während dem Kali Yuga wurde das Wis­sen um die geistige Welt zu einem geheimzuhal­tenden, okkul­ten Wis­sen, dessen Erwerb sorgfältiger Vor­bere­itung bedurfte, sollte es nicht schädlich wirken. Die ver­schiede­nen Mys­te­ri­en­tra­di­tio­nen bilde­ten sich. Eine solche ist der Rosenkreuzer­schu­lungsweg, dessen erste Stufe “Studi­um” genan­nt wird. Auch heute ist das Studi­um wichtig, um zunächst durch Dritte die geistige Welt ken­nen­zuler­nen (GA 55, S. 183), bevor sie sel­ber geschaut wer­den kann.

Eben­so wichtig wie das Studi­um war und ist die Reini­gung der Seele, Kathar­sis genan­nt. Dies ist die Über­win­dung der Nei­gung, die Wahrheit durch Vorurteile zu verz­er­ren. Alle Bew­er­tun­gen in Form von Sym­pa­thie oder Antipathie geleit­eten Urteilen verz­er­ren die reine Wahrnehmung und ver­dunkeln die Erken­nt­nis. Es muss nach wie vor Unvor­ein­genom­men­heit erwor­ben werden.

Als dritte Vor­bere­i­t­ende Bedin­gung möchte ich das Erstarken der seel­is­chen Kräfte nen­nen. Die Seele musste und muss stand­haft und stark wer­den, um innere Ruhe zu bewahren, auch wenn die Wahrnehmungen machtvoll, gegebe­nen­falls sog­ar schmerzvoll waren bzw. sind. Wie oben beschrieben geht die Entwick­lung von Bewusst­sein mit Schmerz­er­leben einher.

Studi­um, Reini­gung und Erstarkung genü­gen jedoch noch nicht, um sel­ber sehend zu wer­den. Um zu erken­nen, wie die Kraft neu gewon­nen wer­den kann, will ich zunächst darstellen, wie sich dieser Kraft­man­gel auswirkt. Im physis­chen Sehen erlebt sich der Men­sch der Welt gegenüber­ste­hend und mehr oder weniger getren­nt von ihr. Dadurch erscheint die Welt stumm und tot. Für kleine Kinder ist das noch nicht so. Für sie ist alles belebt, alles spricht zu ihnen, alles ist von lebendi­gem Geist durch­drun­gen. Doch diese unmit­tel­bare Verbindung geht ver­loren. Die Sehkraft, die durch die äußere Hülle bis ins Herz blickt ver­liert sich, weil der beurteilende, kri­tis­che Ver­stand erwacht.

Wie kann die Ein­heit im Erleben wieder hergestellt wer­den? Wie gelingt es, dass der Wel­tengeist wieder als Kraftquelle im Sehen wirkt? Es erfordert Wach­samkeit und Kraft, sich der Urteile zu enthal­ten. Dadurch wird der Ver­stand zum Schweigen gebracht. Durch das Studi­um der Weisheit­süber­liefer­un­gen wer­den auf­nah­me­bere­ite Gedanken­for­men gebildet, in die sich das ganz Neue, der Wel­tengeist klei­den kann. Doch erst der liebevolle Blick, der die Verbindung wieder her­stellt, ermöglicht die neue Ein­heit. Dem liebevollen Blick erblüht alles in Schön­heit und Weisheit. Ein liebevoller Blick hat die Kraft, das Göt­tliche im Irdis­chen zu sehen.