51 ! Frühling-Erwartung
Ins Innre des Menschenwesens
Ergießt der Sinne Reichtum sich,
Es findet sich der Weltengeist
Im Spiegelbild des Menschenauges,
Das seine Kraft aus ihm
Sich neu erschaffen muss.
Das Mantra 51 ! hat statt des Buchstabens eine Überschrift
Das Mantra 51 ! (von mir mit einem “!” versehen) ist mit Frühling-Erwartung überschrieben. Erwartung ist eine Seelenhaltung, die dem Zukünftigen, dem, was noch nicht da ist, nicht sichtbar, nicht verständlich ist, Raum gibt. Was will da frühlingshaft neu erblühen? Kein christliches oder sonstiges Fest liegt in dieser Woche und gibt einen Hinweis, warum dieses Mantra mit einer Überschrift gekrönt ist. Diese Auszeichnung haben im Seelenkalender nur die vier großen Feste erhalten: 1 A Oster-Stimmung, 12 ! Johannes-Stimmung (ebenso ohne Buchstaben und deshalb von mir mit “!” versehen), 26 Z Michaeli-Stimmung und 38 m Weihe-Nacht-Stimmung. Das Mantra 51 ! tritt damit als fünftes und letztes in den Reigen der vier großen Feste. Seine Lage offenbart eine Gemeinsamkeit mit zwei anderen Mantren: Die Mantren 12 !, 38 m und 51 ! sind jeweils die vorletzten ihres Vierteljahres von 13 Wochen. Die Mantren 1 A Oster-Stimmung und 26 Z Michaeli-Stimmung sind dagegen das erste und letzte Mantra des Sommer-Halbjahres; sie rahmen das Halbjahr ein.
Was zeigt sich darin? Statt einer schnellen Antwort will ich noch zwei weitere Beobachtungen hinzufügen. Sie betreffen zum einen die gemeinsame Gestalt der vier Jahresfeste, die sich durch ihre Lage im Seelenkalender zeigt, zum anderen den charakterisierenden Zusatz in der Überschrift.
Das Festkreuz der vier christlichen Feste
Im inneren Bild stehen vier christliche Feste wie ein Kreuz im Jahreslauf. Diese sind Weihnachten, Ostern, Johanni und Michaeli. Die zugehörigen Mantren werden durch den Zusatz der jeweiligen Fest-Stimmung gekennzeichnet. Doch bei genauerer Betrachtung bilden diese vier Mantren nicht das Kreuz ab, das sich im inneren Bild zeigt. Im Seelenkalender ist es nicht so, dass sich Michaeli und Ostern gegenüberstehen, wie es das innere Bild verlangt. Und auch Johanni und Weihnachten finden sich nicht exakt einander gegenüber. Die Gegenüberstellung wird im Seelenkalender durch den gleichen Buchstaben angezeigt. Das dem Oster-Mantra 1 A gegenüberstehende Mantra ist jedoch das Mantra 27 a, das auf die Michaeli-Woche 26 Z folgt. Und dem Mantra 38 m, das durch seine Überschrift der Weihe-Nacht-Stimmung gewidmet ist, liegt das Mantra 13 M gegenüber, nicht das Mantra 12 !, das aber die Überschrift Johannes-Stimmung erhalten hat. (In der Seelenkalender Ausgabe von 1925 ist die Zuordnung der Buchstaben und dadurch die Gegenüberstellung anders. Zur Problematik dieser Ausgabe siehe: Gut zu wissen.) Es muss sich also etwas wichtiges verbergen hinter dieser dem spontanen inneren Bild widersprechenden “Unstimmigkeit”. Wofür sollen wir wachgerüttelt werden?
Viermal “Stimmung” — einmal “Erwartung”
In der Überschrift der vier großen Feste heißt es “Stimmung”, nur die Überschrift des Mantras 51 ! lautet “Erwartung”. Was ist das Kommende, das hier erwartet wird? Was verbirgt sich wirklich hinter dem Bild des Frühlings, der Frühling-Erwartung? Hängt mit diesem Neuen auch das Aufbrechen des statischen Festkreuzes zusammen? Rudolf Steiner spricht von vier Prinzipien, die bereits auf der Erde verwirklicht sind. Es sind die vier Wesensglieder. Das fünfte Prinzip ist das Kommende, das Rudolf Steiner das Geistselbst nennt (GA 97, S. 57). Auf der Erde wird dieses Wesensglied veranlagt, entwickelt werden die damit neu hinzukommenden Fähigkeiten erst wirklich in der folgenden Erdinkarnation, auf dem neuen Jupiter. Dieses fünfte Prinzip bringt wiederum das sechste, den Lebensgeist hervor. Rudolf Steiner sagt es so: “Wie Christus in die Welt trat, läßt sich folgendermaßen erkennen. Das sechste Prinzip, die Buddhi, ist geboren aus dem fünften, wenn dieses zur vollen Höhe gelangt ist, aus dem Geistselbst oder Manas, oder wie die Griechen damals das fünfte Prinzip nannten, aus der Sophia. Alle Gnostiker, die sich zum Sinne des Johannes-Evangeliums bekannten, nannten die Mutter Jesu «Sophia». Durch das Erscheinen Jesu wird der Erde das sechste Prinzip gebracht.” (GA 97, S. 58f)
Die Sophia kann ich als Urbild der menschlichen Seele betrachten. Dieses Urbild gliedert sich deshalb ebenso in Denken, Fühlen und Wollen, wie die Menschenseele. — Und gerade drei der Mantren mit Überschrift zeigen eine Gemeinsamkeit. Sie liegen an 12. Stelle ihres Vierteljahres: 12 !, 38 m, 51 !. Jedes dieser Mantren zeigt eine Seelenfähigkeit besonders akzentuiert. Das Johanni-Mantra 12 ! zwingt mich durch den Welten Schönheitsglanz. Es zeigt die Willenskraft der Sophia. Im Weihnachts-Mantra 38 m fühle ich das Geisteskind im Seelenschoß und erlebe das Fühlen der Sophia. Diese beiden Seelenfähigkeiten sind bereits entwickelt. Sie sind „Stimmung“, sie herrschen und umgeben uns zur Festeszeit. Im Festkreuz bilden sie die fast senkrecht stehende Achse. Die dritte Seelenfähigkeit ist noch nicht verwirklicht. Sie wird erst erwartet. Im Mantra 51 ! „Frühling-Erwartung“ ergießt sich der Sinne Reichtum ins Innere des Menschenwesens. Der Weltengeist findet sich im Spiegelbild des Menschenauges. Doch dieses Auge muss sich seine Kraft erst wieder neu erschaffen. Erkennen, denken lernen muss die Sophia, die Seele der Menschheit, wieder neu lernen. Und mit ihr und durch sie wird sich die Menschheit ein neues Bewusstsein erwerben können, — ein Bewusstsein, das die Kraft haben wird, den Weltengeist zu schauen.
Die zwei weiteren Mantren mit Überschrift bilden die waagerechte Achse des Festkreuzes. Sie haben nicht mit Vierteljahren zu tun, sondern mit der nächst größeren Einheit, einer Jahreshälfte: das Oster- und das Michaeli-Mantra umschließen das ganze Sommer-Halbjahr. Sie umfassen damit auch ein ganzes Alphabet — von 1 A bis 26 Z. Sie stehen für Anfang und Ende, was im griechischen Alphabet Alpha und Omega waren. In der Offenbarung des Johannes sagt Christus von sich: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Ursprung und das Ziel.” (Offenbarung 22:13) Diese beiden Mantren sind Ursprung und Ziel des Sommer-Halbjahres. Indem sie das ganze Alphabet umschließen, offenbaren sie ihre Beziehung zum Logos, zum Christus.
Die Augen der Vogelgöttin
Manche Darstellungen der bronzezeitlichen Vogelgöttin (erkennbar an der schnabelartigen Nase und fehlendem Mund) zeigen ganz besonders gestaltete Augen. Diese Beispiele zeigen, dass die Menschen der Bronzezeit ihrer großen Muttergöttin eine ganz besondere Fähigkeit des Sehens zusprachen. In dem einen Beispiel werden dreieckige Augen von halbkreisförmigen Augenbrauen begleitet, im anderen Beispiel sind die Augen selber Halbkreise. Besonders die Halbkreis-Augen erinnern an Halbjahre. Sieht die Göttin also durch die Halbjahre?
Die Striche, die bei beiden Darstellungen von ihren Augen herabführen, haben eine lange Tradition. Besonders deutlich wird der dahinter zu vermutende Ideengehalt durch eine aus der Altsteinzeit (um 24.000 v. Chr.) stammende Venusfigurine (s. Abb. unten). Diese Frauenstatuette zeigt, wie Ströme aus den strichförmigen Augen über ihre üppigen Brüste rinnen. Dadurch wird das Tränenwasser mit der nährenden Milch der Brüste verbunden. Das bedeutet nicht, dass sie so traurig ist, sondern dass sie äußerlich den Regen und den Tau spendet, die das Leben ermöglichen und nähren — und es bedeutet ferner, dass mit diesem Lebensstrom auch die klarsichtige Weisheit ihrem Blick entströmt, die alles nach göttlicher Vorstellung formt und ordnet.
Dadurch wird erkennbar, dass die Göttin durch den sommerlichen und winterlichen Prozess des Jahres Erkenntnis gewinnt. Indem sie im Jahreslauf ihr Wirken sichtbar macht, gewinnt sie gleichzeitig Erkenntnis — sie sieht mit Hilfe der Jahreshälften.
Die Augen der Vogelgöttin, beide Darstellungen aus der Vincakultur, Serbien, 5000 — 4500 v. Chr.
Die Frauenstatuette aus der Altsteinzeit ist aus Ton geformt, dem Knochenmehl beigemischt wurde. Schon damals drückte der Knochen zusammen mit der weißen Farbe gebleichter Knochen Tod aus. Die Figur macht dadurch deutlich, wie aus dem Tod das neue Leben entspringt. Und dieses Leben entströmt ihren Augen!
Große Mutter aus Ton und Knochenmehl, Mähren um 24.000 v. Chr., 11cm
Ähnlich wie die Venus von Willendorf (siehe 46 u) lässt auch diese Figur durch ihr rundes Becken an einen Jahreskreis denken. Der gerade waagerechte Strich unter ihrem Nabel entspricht der Halbjahresteilung, die Brüste liegen im Sommer-Halbjahr, die Schenkel im Winter-Halbjahr. Doch über dem Sommer-Halbjahr erhebt sich ihr Kopf. Wie von außen, aus dem Kosmos, strömt in ihren Jahreslauf-Leib das nährende Leben. Die gestaltend-sehende Weisheit entquillt ihren Augen als ein einheitlicher Strom, der sich mit den Brüsten teilt. Jedes höhere Lebewesen ist entweder männlich oder weiblich und verkörpert dadurch nur eine Hälfte seiner Spezies.
Wahrnehmung, Schmerz und Bewusstsein
Die Tränenflut der obigen Göttinnen weist außerdem auf die mit Schmerz einhergehende Entstehung des wahrnehmenden Bewusstseins hin, wie Rudolf Steiner es beschreibt: „Alles das, womit das Bewußtsein beginnt, ist ursprünglich Schmerz. Wenn das Leben sich nach außen öffnet, wenn einer lebendigen Wesenheit Licht, Luft, Hitze, Kälte entgegentreten, dann wirken diese äußeren Elemente zunächst auf das lebendige Wesen. Solange diese Elemente aber nur auf dieses lebendige Wesen wirken, solange sie von diesem lebendigen Wesen aufgenommen werden, wie sie von der Pflanze als Träger von inneren Lebensvorgängen aufgenommen werden, solange entsteht kein Bewußtsein. Bewußtsein entsteht erst dann, wenn diese äußeren Elemente in Widerspruch treten mit dem inneren Leben, wenn eine Zerstörung stattfindet. Aus der Zerstörung des Lebens muß das Bewußtsein erfließen. Ohne teilweisen Tod wird ein Lichtstrahl in ein lebendiges Wesen nicht eindringen können, wird in dem lebendigen Wesen nie der Vorgang angeregt werden können, aus dem das Bewußtsein entspringt. Wenn aber das Licht in die Oberfläche des Lebens eindringt, dann eine teilweise Verwüstung anrichtet, die inneren Stoffe und Kräfte niederreißt, dann entsteht jener geheimnisvolle Vorgang, der sich überall in der Außenwelt in ganz bestimmter Weise abspielt. Stellen Sie sich vor: Die intelligenten Kräfte der Welt wären zu einer Höhe emporgestiegen, daß das äußere Licht und die äußere Luft ihnen fremd geworden wären. Nur eine Zeitlang blieben sie mit ihnen in Einklang, dann vervollkommneten sie sich selbst, wodurch ein Widerspruch entstand. Könnten Sie mit den Augen des Geistes diesen Vorgang verfolgen, so könnten Sie sehen, wie da, wo sich in einfache Wesen ein Lichtstrahl eindrängt, die Haut etwas umgestaltet wird und ein winziges Auge entsteht. Was ist es nun, was da in der Materie zuerst aufdämmert? In was drückt sich diese feine Zerstörung aus, denn eine Zerstörung ist es, was dabei vor sich geht? Es ist der Schmerz, der nichts als ein Ausdruck für diese Zerstörung ist. Überall, wo das Leben der äußeren Natur entgegentritt, findet Zerstörung statt, die, wenn sie größer wird, selbst den Tod hervorbringt. Aus dem Schmerz wird das Bewußtsein geboren. Derselbe Prozeß, der Ihr Auge geschaffen hat, wäre ein Zerstörungsprozeß geworden, wenn er an dem Wesen, das sich in dem menschlichen Wesen herauf entwickelt hat, überhand genommen hätte. So hat er aber nur einen kleinen Teil ergriffen, wodurch er aus der Zerstörung, aus dem partiellen Tod heraus jene Spiegelung der Außenwelt schaffen konnte, die man das Bewußtsein nennt. Das Bewußtsein innerhalb der Materie wird also aus dem Leide, aus dem Schmerz geboren.“ (Lit.: GA 55, S. 80f Hervorhebungen A.F.)
Was sagt das Mantra 51 ! Frühling-Erwartung?
Das ganze Mantra 51 ! ist in der neutralen dritten Person verfasst. Ein Prozess ist darin beschrieben, zu dem der Mensch gehört, der aber, ähnlich wie der Jahreslauf, unabhängig von der Präsenz und Aktivität des Menschen stattfindet.
Das Mantra sagt: der Reichtum der Sinne, die Summe aller Wahrnehmungen, ergießt sich in das Innere des Menschenwesens. Rudolf Steiner spricht davon, dass wir zwölf Sinne, zwölf Wahrnehmungsbereiche unterscheiden können. Diese zwölf Sinne schenken dem Menschen einen umfassenden Reichtum an Wahrnehmungen. Schon wenn ein einzelner Sinn geschwächt ist, wird großer Mangel erlebt. Auch wenn die meisten Wahrnehmungen unter der Bewusstseinsschwelle bleiben, gleicht die Gesamtheit der Wahrnehmungen einer ununterbrochenen, großen Flut. Sogar nachts haben wir Wahrnehmungen von Tast- und Wärmeempfindungen. Auch das Ohr lauscht. Werden einem Menschen unfreiwillig so gut wie alle Sinnesreize entzogen, treten Angstzustände und Halluzinationen auf. Wir sind angewiesen auf das ununterbrochene Einströmen von Wahrnehmungen. Dieser gewaltige Reichtum ergießt sich in das Innere des Menschenwesens. Dieser Sinnes-Reichtum ergießt sich in den Körper und bewirkt die physiologische Erregung der Nerven. Er strömt in die Seele und versetzt sie in Schwingung zwischen sympathischer oder antipathischer Reaktion. Und schließlich fließt er in den Geist und bildet die Grundlage der Erkenntnis. Durch die Sinne wird Außenwelt zu Innenwelt. Der Reichtum an Wahrnehmungen ergießt sich, — er fließt wie ein kräftiger Strom. Das Bild eines kräftig strömenden Flusses entsteht. So wie Wasser und Leben zusammengehören, sind auch Wahrnehmung und Leben nicht voneinander zu trennen. Es gibt keinen lebendigen Organismus, der nicht auch ein wahrnehmender wäre!
Soweit ist das Mantra gut verständlich — doch dann? Indem sich die Sinneswahrnehmung in das ganze Menschenwesen ergießt, die Außenwelt zur Innenwelt wird, findet sich der Weltengeist im Spiegelbild des Menschenauges. Wie lässt sich das nachvollziehen? Kann ich bemerken, dass der Weltengeist, — der Geistgehalt der Welt, ihr geistig-wesenhaftes Sein — sich in mir, im Spiegelbild meines Auges findet? Wie kann sich der Weltengeist in einem Bild, noch dazu in einem Spiegelbild finden, — befinden, zu finden sein -, welches ja gerade nicht das Ursächliche ist?
Vielleicht so: die Wahrnehmung ermöglicht es dem Menschen, Vorstellungen zu bilden. Eine Vorstellung ist ein Bild, ein Spiegelbild der Welt, das der Mensch geistig vor sich hinstellt. Eine Vorstellung ist aber auch eine geistige Schöpfung. Ist mit diesem Spiegelbild des Menschenauges vielleicht diese Vorstellung gemeint? Eine Vorstellung ist nach Rudolf Steiner ein auf eine bestimmte Wahrnehmung bezogener und dadurch individualisierter Begriff (GA 4, S. 107), der dem Gedächtnis eingeprägt wird. In der Vorstellung ist das Verständnis schon inbegriffen. Der Weltengeist, als Gesamtheit der in allem Sein enthaltenen Weisheit, ist dadurch auch in der Vorstellung enthalten — im Spiegelbild des Menschenauges. Er wird darin sichtbar. Er ist mit jeder menschlichen Vorstellung verbunden und findet sich darin, weil die Geistigkeit, die den Menschen verstehen lässt, nicht getrennt gedacht werden kann von der Weisheit, die sich in der Welt offenbart – im verlebendigten geometrischen Aufbau der Blüten, im Weisheit offenbarenden Gleichgewicht in der Natur usw.
Das Auge steht hier stellvertretend für alle anderen Sinne. Durch die Wahrnehmung kann sich der Mensch die in der Welt vorhandene Weisheit nach und nach erschließen. Und dadurch kann auch der Weltengeist als die hinter dieser Weisheit wirkende, es gerade so und nicht anders wollende Kraft gefunden werden. Rudolf Steiner sagt: “<Er> ist das Kraftwort für den Weltenwillen, den Weltengeist, dessen Wille aus sich selbst wirkt, während der menschliche Wille durch die äußere Welt zum Wirken bestimmt wird. Dieser <Er> ist die schaffende Urkraft.” (GA 245, S. 47)
Das Organ, was zu dieser Geistwahrnehmung fähig ist, ist das Stirnchakra, das dritte Auge. In diesem Menschenauge findet sich der Weltengeist gespiegelt. Doch hat das dritte Auge im Laufe der Menschheitsentwicklung seine Sehkraft verloren, die alte Hellsichtigkeit ist verdämmert, der Spiegel ist stumpf geworden. Der Weltengeist findet sich hier nach wie vor. Das Mantra spricht hier von einer Tatsache, dass sich der Weltengeist im Spiegelbild des Menschenauges findet. Doch dieses Auge hat für die meisten Menschen seine Sehfähigkeit verloren, es ist erblindet.
Das Auge muss sich seine Kraft neu erschaffen. Hier findet sich ein Paradox, denn diese Sehkraft muss aus eben der verlorenen Wahrnehmung des Weltengeistes geschaffen werden. Wie geht das? So wie ein Blinder sich durch Erzählungen der Sehenden ein Bild der sichtbaren Welt machen muss, so ist der geistig blind gewordene Mensch darauf angewiesen, Schilderungen eines Wissenden aufnehmen und in sich lebendig zu machen. Er muss zunächst die in der Welt waltende Weisheit durch andere kennen lernen und aufmerksam werden auf das, was über die physische Sinneswahrnehmung hinaus geht.
Wie die Vogelgöttin u.a. deutlich macht, hatte die Menschheit in alter Zeit eine natürliche Hellsichtigkeit. Doch diese verdämmerte laut Rudolf Steiner 3101 v.Chr. durch oder mit dem Beginn des Kali Yuga, des dunklen Zeitalters, das 5000 Jahre dauerte und 1899 endete. Nun ist es Aufgabe der ganzen Menschheit, die geistige Sehkraft wieder zu erwerben.
Während dem Kali Yuga wurde das Wissen um die geistige Welt zu einem geheimzuhaltenden, okkulten Wissen, dessen Erwerb sorgfältiger Vorbereitung bedurfte, sollte es nicht schädlich wirken. Die verschiedenen Mysterientraditionen bildeten sich. Eine solche ist der Rosenkreuzerschulungsweg, dessen erste Stufe “Studium” genannt wird. Auch heute ist das Studium wichtig, um zunächst durch Dritte die geistige Welt kennenzulernen (GA 55, S. 183), bevor sie selber geschaut werden kann.
Ebenso wichtig wie das Studium war und ist die Reinigung der Seele, Katharsis genannt. Dies ist die Überwindung der Neigung, die Wahrheit durch Vorurteile zu verzerren. Alle Bewertungen in Form von Sympathie oder Antipathie geleiteten Urteilen verzerren die reine Wahrnehmung und verdunkeln die Erkenntnis. Es muss nach wie vor Unvoreingenommenheit erworben werden.
Als dritte Vorbereitende Bedingung möchte ich das Erstarken der seelischen Kräfte nennen. Die Seele musste und muss standhaft und stark werden, um innere Ruhe zu bewahren, auch wenn die Wahrnehmungen machtvoll, gegebenenfalls sogar schmerzvoll waren bzw. sind. Wie oben beschrieben geht die Entwicklung von Bewusstsein mit Schmerzerleben einher.
Studium, Reinigung und Erstarkung genügen jedoch noch nicht, um selber sehend zu werden. Um zu erkennen, wie die Kraft neu gewonnen werden kann, will ich zunächst darstellen, wie sich dieser Kraftmangel auswirkt. Im physischen Sehen erlebt sich der Mensch der Welt gegenüberstehend und mehr oder weniger getrennt von ihr. Dadurch erscheint die Welt stumm und tot. Für kleine Kinder ist das noch nicht so. Für sie ist alles belebt, alles spricht zu ihnen, alles ist von lebendigem Geist durchdrungen. Doch diese unmittelbare Verbindung geht verloren. Die Sehkraft, die durch die äußere Hülle bis ins Herz blickt verliert sich, weil der beurteilende, kritische Verstand erwacht.
Wie kann die Einheit im Erleben wieder hergestellt werden? Wie gelingt es, dass der Weltengeist wieder als Kraftquelle im Sehen wirkt? Es erfordert Wachsamkeit und Kraft, sich der Urteile zu enthalten. Dadurch wird der Verstand zum Schweigen gebracht. Durch das Studium der Weisheitsüberlieferungen werden aufnahmebereite Gedankenformen gebildet, in die sich das ganz Neue, der Weltengeist kleiden kann. Doch erst der liebevolle Blick, der die Verbindung wieder herstellt, ermöglicht die neue Einheit. Dem liebevollen Blick erblüht alles in Schönheit und Weisheit. Ein liebevoller Blick hat die Kraft, das Göttliche im Irdischen zu sehen.