52 z

Wenn aus den Seelentiefen

Der Geist sich wen­det zu dem Weltensein

Und Schön­heit quillt aus Raumesweiten,

Dann zieht aus Himmelsfernen

Des Lebens Kraft in Menschenleiber

Und einet, machtvoll wirkend,

Des Geistes Wesen mit dem Menschensein.

Das Schließen des Kreises — oder die Vereinigung der beiden Wege der Einweihung

Mit dem Mantra 52 z befind­en wir uns an der Schwelle vom Win­ter- zum Som­mer-Hal­b­jahr und gle­ichzeit­ig an der Schwelle eines neuen Jahreszyk­lus. Mit diesem Mantra schließt sich der Jahreskreis des Seelenkalenders.

Rudolf Stein­er benutzt im fol­gen­den Zitat auf­fal­l­end oft das Bild des sich schließen­den, sich run­den­den Kreis­es. Worum geht es ihm hier?

Er beschreibt, dass dem Men­schen große Gefahren dro­hen, wenn er zum einen den Weg der Erken­nt­nis der Wel­tenweit­en und zum anderen der See­len­tiefen sucht, ohne den Chris­tusim­puls aufgenom­men zu haben. Die bei­den Wege sind im See­lenkalen­der enthal­ten als Som­mer- und Win­ter-Hal­b­jahr. Die Wahrnehmung und damit das Som­mer-Hal­b­jahr führt in die Wel­tenweit­en, das Denken und damit das Win­ter-Hal­b­jahr führt in die See­len­tiefen. Rudolf Stein­er sagt: “… dass wir in der Tat mit unserem gegen­wär­ti­gen Bewusst­sein schwache Men­schen sind. Wollen wir hin­aus in die Welt, so ste­hen wir vor der Leere, wollen wir in uns hin­unter, da fan­gen wir uns in der Falle unser­er Wil­len­snatur. Und dadurch kom­men die schw­eren See­len­prü­fun­gen, die ein­treten müssen, wenn der Men­sch von dem gegen­wär­ti­gen Stand­punkt seines Bewusst­seins sich nach der einen oder anderen Rich­tung den Geheimnis­sen der Welt näh­ern will, über die er sich zunächst ver­wun­dern muss, weil sie ihm als Wel­tenwun­der entgegentreten.

Woher kommt denn das, was jet­zt gesagt wor­den ist? Nun, das kommt daher, weil, wenn wir hin­aus­drin­gen in die Wel­tenweit­en, wir in eine Region hineinkom­men, die wir … beze­ich­net haben als die Region der oberen Göt­ter und Geis­ter, die nur die Vorstel­lun­gen der realen Göt­ter oder Geis­ter sind. Wir ger­at­en also in eine Welt hinein, die keine Selb­ständigkeit hat. Kein Wun­der, dass das, was uns diese Welt geben kann, uns zulet­zt ins Leere führt. Wie auch der Men­sch zur Erken­nt­nis vorzu­drin­gen strebt, wenn er da hin­auf­dringt, wohin sein Denken, seine Vorstel­lun­gen zunächst drin­gen kön­nen, da gelangt er sel­ber nur zu Vorstel­lun­gen, zu Vorstel­lun­gen der Göt­ter, und kann nicht in eine wirk­liche Real­ität hineinkom­men. Dringt der Men­sch aber in sich hin­unter, in das, was durch Jahrmil­lio­nen und aber Jahrmil­lio­nen in ihm gebildet wor­den ist, dann gelangt er zu den Tat­en, den Ergeb­nis­sen der anderen göt­tlich-geisti­gen Wel­ten, die wir … die unterirdis­chen, die wahren Göt­ter nan­nten. Aber um zu ihnen hin­durchzu­drin­gen, müssen wir erst durch unsere eige­nen Triebe, Begier­den und Lei­den­schaften hin­durch, durch alles das, was uns da fängt, uns aufn­immt und uns verän­dert, so dass wir ihm fol­gen müssen. Und das führt uns in die Egoität, in den Ego­is­mus und schließt uns ab von diesen unteren Göt­tern. So haben wir den anderen Pol der See­len­prü­fun­gen. Wollen wir uns den oberen Göt­tern näh­ern, dann gelan­gen wir ins Leere, in die bloße Vorstel­lungswelt. Wollen wir uns den unteren Göt­tern näh­ern, so ver­lässt uns alles Vorstellen, weil wir von den blind­wü­ten­den Trieben in unserem eige­nen Innern erfasst wer­den und uns in ihnen sel­ber ver­bren­nen. Deshalb sind die See­len­prü­fun­gen so schwierig. Eines aber gibt es, das uns zunächst eine rein the­o­retis­che Aus­sicht eröffnet. Wir müssen uns doch sagen: Wie dünn auch die Ideen sind, wie dünn auch alles das ist, was uns die Egoität, der Ego­is­mus geben kann, es ist eben doch aus dem Wel­tenganzen her­aus. Und wenn wir nur in der richti­gen Weise uns in dieses unser Bewusst­sein hine­in­find­en kön­nen, dass wir es in sein­er Selb­ständigkeit betra­cht­en, so betra­cht­en, wie es in sich sel­ber ist, und wenn es dann immer stärk­er und stärk­er wird, dann vielle­icht drin­gen wir auf dem einen oder anderen Weg vor, so dass die See­len­prü­fung bestanden wer­den kann. Es soll nur hier gekennze­ich­net wer­den, wie wir vor­drin­gen kön­nen in ander­er Art als mit dem gewöhn­lichen nor­malen Bewusstsein.

Nehmen wir an, wir durch­drin­gen uns mit dem, was wir jet­zt schon in der ver­schieden­sten Weise genan­nt haben den Chris­tus-Impuls, wir ler­nen ver­ste­hen in sein­er tief­sten Bedeu­tung das Paulin­is­che Wort: Nicht Ich, son­dern der Chris­tus in mir. Dann ste­hen wir mit unserem nor­malen Bewusst­sein zunächst da und sagen: Wir wollen dieses nor­male Bewusst­sein nicht allein wirken lassen, wir wollen nicht allein in dieser unser­er Per­sön­lichkeit bleiben, son­dern wir wollen uns mit der Sub­stan­tial­ität durch­drin­gen, die ja seit dem Mys­teri­um von Gol­gatha in der Erde­nat­mo­sphäre enthal­ten ist, mit der Chris­tus-Sub­stanz. Wenn wir uns so mit ihr durch­drin­gen, dann nehmen wir nicht bloß unsere dün­nen Ideen hin­aus in die Wel­tenweit­en, son­dern dann nehmen wir – und wenn wir noch so weit gehen in die Raumesweit­en – die Sub­stan­tial­ität des Chris­tus mit. Alle unsere Ideen sind dann durch­drun­gen von der Sub­stanz des Chris­tus. Und dabei stellt sich etwas höchst merk­würdi­ges her­aus, was ich Ihnen klar­ma­chen möchte an der wis­senschaftlichen Entwick­elung der neueren Zeit. … [Es wird beschrieben, wie die wis­senschaftliche The­o­rie ins Leere führt und Licht und Wärme sel­ber nicht mehr erk­lär­bar sind aus Atom­en und Schwingun­gen, A.F.]

Anders ist es, wenn wir unsere Ideen, wenn wir unsere abstrak­ten Geset­ze über­all mit dem durch­drin­gen, was in Wahrheit der Chris­tus-Impuls ist, von dem Sie ja alle wis­sen, dass nicht irgend etwas damit gemeint ist, was ein ortho­dox­es Beken­nt­nis im Auge hat, son­dern der große makrokos­mis­che Chris­tus-Impuls. Mit dem müssen wir uns durch­drin­gen im Paulin­is­chen Sinn. Nicht unsere abstrak­ten Ideen und Begriffe, son­dern das, was sie sind, als unsere gegen­wär­tige Bewusst­seins­form durch­drun­gen von dem Chris­tus-Impuls, das tra­gen wir hin­aus in die Welt. Und hier liefert die Erfahrung etwas ganz Eige­nar­tiges. Wie wir immer leer­er und ärmer wer­den und unser Bewusst­sein zulet­zt zer­sprüht und zer­stiebt in die Wel­tenleere, wenn wir mit dem Chris­tus-losen Bewusst­sein hin­aus­drin­gen — sobald wir den Chris­tus-Impuls aufgenom­men haben, je weit­er wir auch kom­men in die Wel­tenfer­nen, in die Raumesweit­en, desto reich­er, voller wird unser Bewusst­sein. Und wenn wir bis zur Hell­sichtigkeit vor­drin­gen, dann haben wir durch die Chris­tus-erfüllte Seele reich­lichen See­len­stoff, so dass mächtig und grandios die wirk­lichen Ursachen der Real­ität als übersinnliche Real­itäten zulet­zt vor uns ste­hen. Während unser Chris­tus-los­es Bewusst­sein uns vor die Leere in den Wel­tenweit­en bringt, bringt uns das Chris­tus-erfüllte Bewusst­sein vor die wahren Ursachen der Wel­ter­schei­n­un­gen und Wel­tenwun­der. … Wenn wir den Chris­tus hin­aus­tra­gen in unsere Weltan­schau­ung, wird er uns Fülle geben statt der Leerheit.

Und wenn wir den anderen Weg gehen, wenn wir im Paulin­is­chen Sinne … unsere Seele erfüllen mit dem Chris­tus-Impuls und dann in uns sel­ber ein­tauchen, was geschieht dann? Der Chris­tus-Impuls hat die Eigen­tüm­lichkeit, dass er auf unsere Egoität, auf unseren Ego­is­mus wie auflösend, wie zer­störend wirkt. Merk­würdig: je weit­er wir hin­un­ter­steigen mit dem Chris­tus-Impuls in uns sel­ber, desto weniger kann uns der Ego­is­mus anhab­en. Wir drin­gen dann immer mehr und mehr in uns sel­ber ein, und wir ler­nen, indem wir mit dem Chris­tus-Impuls durch unsere ego­is­tis­chen Triebe und Lei­den­schaften drin­gen, die Men­schen­we­sen­heit erken­nen, ler­nen die ganzen Geheimnisse des Wel­tenwun­ders, des Men­schen ken­nen. Ja dieser Chris­tus-Impuls lässt uns noch viel weit­er gehen. Während wir son­st wie ein Kautschuk­ball zurück­ge­wor­fen wer­den und nicht in uns sel­ber, in das Gebi­et unser­er eige­nen Men­schheit­sor­gan­i­sa­tion hin­un­terkom­men, drin­gen wir durch Chris­tus immer tiefer und tiefer in uns, durch­drin­gen uns sel­ber, kom­men sozusagen wieder her­aus aus uns sel­ber nach der anderen Seite. So dass, wenn wir nach der einen Seite hin­aus­drin­gen in die Wel­tenweit­en und über­all in den Raumes­fer­nen das Chris­tus-Prinzip find­en, wir auf der anderen Seite, wenn wir hin­un­ter­drin­gen, im Gebi­ete der unterirdis­chen Wel­ten, auch alles Unper­sön­liche, von uns Freie find­en. Nach bei­den Seit­en find­en wir das, was über uns hin­aus­ge­ht. In den Wel­tenweit­en zer­stieben, zer­sprühen wir nicht, wir find­en die Welt der oberen Göt­ter; unten drin­gen wir in die Welt der wahren Göt­ter ein.

Und das­jenige, was uns in uns selb­st führt und uns in die Wel­tenweit­en führt, wir kön­nten es zeich­nen als einen Kreis und kämen sel­ber zulet­zt außer­halb von uns selb­st zusam­men. Das, was Wil­len­snatur ist, in das wir son­st unter­tauchen wie in ein Gebi­et, in dem wir ver­bren­nen, und das, was Raumesweit­en sind, darin­nen wir zer­stieben wie in ein Nichts: das kommt zusam­men. Und unsere Gedanken über die Welt vere­ini­gen sich mit dem Willen, der uns aus der Welt ent­ge­gen­tritt, wenn wir hin­un­ter­steigen. Wil­lenser­füllte Gedanken, wol­lende Gedanken! Wir ste­hen durch einen solchen Prozess nicht mehr vor abstrak­ten Gedanken, son­dern vor den Wel­tengedanken, die in sich sel­ber schaf­fend sind, die wollen kön­nen. Wol­lende Gedanken: das heißt aber Göt­ter­we­sen, geistige Wesen­heit­en, denn wil­lenser­füllte Gedanken sind geistige Wesen­heit­en. So schließt sich der Kreis. So drin­gen wir durch die See­len­prü­fun­gen, die uns begeg­nen, während wir son­st ins Nichts durch die Schwäche der eige­nen Seele gehen wür­den. So drin­gen wir, wenn wir in uns sel­ber hin­un­ter­steigen durch die über­große Egoität – das heißt durch die in der Egoität, im Ego­is­mus starke Seele – nach bei­den Seit­en zu dem, was uns zu See­len­prü­fun­gen zwar führen kann, was uns aber nim­mer­mehr etwas über die Welt sagen kann.

Wir müssen bei­de Wege wan­deln, müssen bei­de Wider­stände empfind­en, sowohl die Furcht vor der Leere wie auch den Wider­stand der eige­nen Egoität. Und so durch uns hin­durch­drin­gend nach der anderen Seite der Wil­len­snatur, der Welt uns näh­ernd, wer­den wir ergrif­f­en, sobald wir auf diese Weise aus uns sel­ber her­auskom­men, von dem unendlichen Mit­fühlen, von dem unendlichen Mitlei­den mit allen Wesen­heit­en. Und dieses Mit­fühlen, dieses Mitlei­den, das ist es, was sich verbindet, wenn der Kreis­lauf geschlossen ist, mit den Wel­tengedanken, die sich son­st ver­flüchti­gen und nun sub­stantiellen Gehalt emp­fan­gen. Der Chris­tus-Impuls führt uns nach und nach zum Schließen des Kreis­es, führt uns dazu, zu erken­nen, was in den Raumesweit­en als wil­lenser­füllte, das heißt wesen­hafte, Gedanken weset und lebt. Dann aber, wenn uns die See­len­prü­fun­gen in dieser Art weit­erge­führt haben, sind wir geläutert in unser­er Seele, durchge­drun­gen durch den Läuterung­sprozess, den wir durch­machen mussten. Indem wir nach unten durch alles drin­gen müssen, was uns der Hüter der Schwelle zeigt als die Ver­an­las­sung zum Ego­is­mus, sind wir auch gefeit vor alle­dem, was uns Ver­an­las­sung gibt, zu zer­stieben in den Raumesweit­en und die Furcht vor der Leere zu empfinden.

Solch eine Weisheit, die uns im Grunde genom­men auf das tief­ste Mys­teri­um der See­len­prü­fun­gen führt, herrschte in den alten griechis­chen Mys­te­rien. Deshalb wur­den die griechis­chen Mys­ten, die Schüler dieser Mys­te­rien, auf der einen Seite geführt zu der Furcht vor dem unendlichen Abgrund und der Erken­nt­nis, auf der anderen Seite zu der Ver­suchung durch die Egoität und zur Über­win­dung der Egoität in dem unendlichen Mitleid und Mit­ge­fühl mit allen Wesen­heit­en. Und in der Ehe, in der Vere­ini­gung des Mit­ge­fühls, des Mitlei­dens mit den Gedanken, erlebten sie die Läuterung von allen See­len­prü­fun­gen. Ein schwach­es, ein ganz schwach­es Abbild hat die Urtragödie, das Urdra­ma, in Griechen­land geschaf­fen. … Sie waren da, um in der Art und Weise, wie eine Hand­lung fort­laufend auf der Bühne dargestellt ist, Furcht und Mitleid zu erre­gen und zur Läuterung, zur Kathar­sis von Furcht und Mitleid zu führen. …

So aber sehen wir, wie aus dem Welt- und Men­schheitswer­den entsprin­gen müssen die See­len­prü­fun­gen. Wir sehen aber auch, wie diese See­len­prü­fun­gen dadurch entste­hen, dass unsere Seele sich ver­an­lasst fühlt, zwei Wege zu gehen, den einen Weg in die Wel­tenfer­nen, den anderen in die eige­nen Wesen­stiefen: Dass sie Prü­fun­gen beste­hen muss, weil sie nach bei­den Seit­en hin den Aus­blick nicht haben kann, dass sie aber hof­fen kann, den Kreis zu schließen, den Willen von der einen Seite, die Gedanken von der anderen Seite zu find­en und dadurch die wahren Real­itäten, das, wodurch sich die Welt offen­bart als wol­len­der Geist, als geistiges Wollen.

Wohin wir zulet­zt gelan­gen, ist, dass sich uns die ganze Welt in Geist auflöst, dass wir über­all Geist erblick­en und dass wir alles, was Stof­flich-Materielles ist, nur als die äußere Man­i­fes­ta­tion des Geistes zu erken­nen haben, als das Trug­bild des Geistes. Weil wir nicht im Geiste uns wis­sen, wohl aber im Geist leben, müssen wir solche Prü­fun­gen durch­machen. Denn wir leben zwar im Geist, wis­sen es aber nicht. Wir sehen den Geist in ein­er trügerischen Form und müssen aus dem Truge, der wir sel­ber sind, aus dem Traum, als welchen wir uns sel­ber träu­men, zur Real­ität vor­drin­gen, müssen abstreifen alles das, was noch an Materielles oder an Geset­ze von Materiellem erin­nert. Das ist ein Weg, dessen Ende wir ahnen kön­nen, aber aus solchen Ahnun­gen ents­prießt uns die Stärke, die uns sagt: Wir wer­den endlich den Kreis schließen kön­nen und in der Geis­te­sof­fen­barung die Lösun­gen der Wel­tenwun­der, die Befriedi­gun­gen für die See­len­prü­fun­gen find­en können.

So muss uns eine wirk­liche Betra­ch­tung der Geis­teswis­senschaft niemals mut­los machen. Und wenn uns auch gezeigt wer­den muss, wie schw­er die See­len­prü­fun­gen sind, wie sie immer wieder von neuem auftreten müssen, so müssen wir uns den­noch sagen; Ken­nen­ler­nen müssen wir sie, ja, auch durch­machen müssen wir sie, denn dass wir sie abstrakt wis­sen, das hil­ft uns nichts. Aber wir müssen auch das Ver­trauen haben, dass wir über die See­len­prü­fun­gen zu den Geis­te­sof­fen­barun­gen vorschre­it­en wer­den. … Niemals aber dür­fen wir das Ver­trauen ver­lieren, dass die Men­schenseele dazu bes­timmt ist, ihr göt­tlich­es Selb­st zu den Geis­te­sof­fen­barun­gen emporzu­tra­gen. Daher ist der Gang der Men­schenseele der, dass sie der Welt gegenüber­ste­ht, diese Welt als Maja oder große Illu­sion sieht, fühlt, dass inner­halb dieser Maja oder großen Illu­sion die Wel­tenwun­der ver­bor­gen sind, dass die Ver­wun­derung als die erste See­len­prü­fung ein­tritt, dass dann die Prü­fun­gen immer schw­er­er und schw­er­er wer­den, aber dass die Seele ihre Stärke behal­ten kann, so dass sie zum Schließen des Kreis­es kommt und endlich in der Geis­te­sof­fen­barung die Auflö­sung der Wel­tenwun­der, die Läuterung der See­len­prü­fun­gen find­et. Das ist der Gang, den die Men­schenseele macht – und nicht allein die Men­schenseele -, den alle göt­tlichen Hier­ar­chien anstreben und in der Men­schenseele machen“ (Stein­er, GA 129, 10. Vor­trag, 27.8. 1911, S. 216 — 225, Her­vorhe­bun­gen A.F.).

Die vielfache Wieder­hol­ung des Kreis-Bildes für die bei­den Wege der Ein­wei­hung klingt so, als würde Rudolf Stein­er impliz­it auf den Jahres­lauf hin­weisen wollen.

Karwoche und Karfreitag

Die Kar­woche wird vom Palm­son­ntag bis zu sein­er Oktave, dem Oster­son­ntag die Große Woche genan­nt. Das Mantra 52 z ist das Mantra dieser Woche. Zwei fast gegen­sät­zliche Bedeu­tun­gen fand ich für die Vor­silbe “Kar”: zum einen stammt kar vom althochdeutschen kara, was Klage, Kum­mer, Trauer bedeutet, zum anderen gab Mar­tin Luther ihm die Bedeu­tung “Guter Fre­itag”, von kar auf lateinisch carus beruhend, was lieb, gut oder teuer bedeutet. Daraus entwick­elte sich die englis­che Beze­ich­nung Good Fri­day. (Wikipedia.org, Karfreitag)

Was in dieser Woche geschah, wessen die Chris­ten­heit in dieser Woche gedenkt, beschreibt Rudolf Stein­er als das wichtig­ste Ereig­nis der ganzen Men­schheits- und Erdenentwicklung:

„An einem Fre­itag, am 3. April des Jahres 33, drei Uhr am Nach­mit­tag fand das Mys­teri­um von Gol­gatha statt. Und da fand auch statt die Geburt des Ich in dem Sinne, wie wir es oft­mals charak­ter­isiert haben. Und es ist ganz gle­ichgültig, auf welchem Erden­punk­te der Men­sch lebt, oder welchem Reli­gions­beken­nt­nis er ange­hört, das, was durch das Mys­teri­um von Gol­gatha in die Welt kam, gilt für alle Men­schen. So wie es für alle Welt gilt, daß Cäsar an einem bes­timmten Tage gestor­ben ist, und nicht für die Chi­ne­sen ein ander­er und für die Inder wieder ein ander­er Tag dafür gilt, eben­so ist es eine ein­fache Tat­sache des okkul­ten Lebens, daß das Mys­teri­um von Gol­gatha sich an diesem Tage zuge­tra­gen hat und daß man es da zu tun hat mit der Geburt des Ich. Das ist eine Tat­sache ganz inter­na­tionaler Art.“ (Lit.: GA 143, S. 163)

Rudolf Stein­er beschreibt darüber hin­aus, dass dieses Ereig­nis für die Erde und sog­ar für die Wesen der übersinnlichen Welte von entschei­den­der Bedeu­tung war: „Eben­so wie das Leben dem men­schlichen Wis­sen unzugänglich ist, so ist dies der Fall mit dem Tod dem wahren Wis­sen gegenüber, welch­es in den übersinnlichen Wel­ten erlangt wird. In dem ganzen Gebi­et der übersinnlichen Wel­ten gibt es keinen Tod. Man kann nur auf Erden ster­ben, in der physis­chen Welt oder in den Wel­ten, welche in der Entwick­elung unser­er Erde gle­ichen, und alle die Wesen­heit­en, die hier­ar­chisch höher ste­hen als der Men­sch, haben keine Ken­nt­nis vom Tode, sie ken­nen nur ver­schiedene Bewußt­sein­szustände. Ihr Bewußt­sein kann zeitweise so her­abge­set­zt sein, daß es unserem irdis­chen Schlafzu­s­tand ähn­lich ist, aber es kann aus diesem Schlaf wieder aufwachen. Es gibt keinen Tod in der geisti­gen Welt, es gibt dort nur Bewußt­sein­sän­derun­gen, und die größte Furcht, die der Men­sch hat, die Todes­furcht, kann von einem, der nach dem Tode zu den übersinnlichen Wel­ten aufgestiegen ist, nicht emp­fun­den wer­den. Es gibt daher keinen Tod für die Wesen, die zu den höheren Hier­ar­chien gehören, mit nur ein­er einzi­gen Aus­nahme, der des Chris­tus. Aber damit eine übersinnliche Wesen­heit wie der Chris­tus durch den Tod gehen kon­nte, mußte er erst auf die Erde her­ab­steigen. Und das ist es, was von so uner­meßlich­er Wichtigkeit in dem Mys­teri­um von Gol­gatha ist, daß eine Wesen­heit, die in ihrem eige­nen Reiche in der Sphäre ihres Wil­lens niemals den Tod hätte erfahren kön­nen, hat hin­un­ter­steigen müssen auf die Erde, um eine Erfahrung durchzu­machen, die dem Men­schen eigen ist, näm­lich um den Tod zu erfahren. Es vere­inigte sich ein Wesen, einzig in sein­er Art, welch­es bis dahin nur kos­misch war, durch das Mys­teri­um von Gol­gatha, durch den Tod des Chris­tus, mit der Erdenevo­lu­tion. Seit­dem lebt es auf eine solche Weise auf Erden, ist so an die Erde gebun­den, daß es in den See­len der Men­schen auf Erden lebt und mit ihnen das Leben auf Erden erfährt. Daher war die ganze Zeit vor dem Mys­teri­um von Gol­gatha nur eine Zeit der Vor­bere­itung in der Evo­lu­tion der Erde. Das Mys­teri­um von Gol­gatha gab der Erde ihren Sinn. Als das Mys­teri­um von Gol­gatha stat­tfand, wurde der irdis­che Kör­p­er des Jesus von Nazareth den Ele­menten der Erde übergeben, und von der Zeit an war der Chris­tus ver­bun­den mit der geisti­gen Sphäre der Erde und lebt darin.“ (Lit.: GA 152, S. 39f)

Die Kar­woche begin­nt mit Palm­son­ntag, dem glanzvollen Einzug von Jesus Chris­tus in Jerusalem. Als König wird er gefeiert, wie die Sonne strahlt seine Macht. Am Mon­tag und Dien­stag regiert er, indem er die Ver­hält­nisse neu ord­net. Am Mittwoch wen­det sich die Sit­u­a­tion. Maria Mag­dale­na salbt ihn und bei Matthäus find­et der Ver­rat an diesem Tage statt. Was nun kommt sind nicht mehr die Hand­lun­gen eines Königs. Es sind die Tat­en des dienen­den Brud­ers, des in der Hingabe Großen, der den Men­schen durch Leid und Tod vorangeht.

Die Jahreszählung beginnend mit dem Auferstehungstag

Rudolf Stein­er betonte immer wieder, dass die Bedeu­tung des Mys­teri­ums von Gol­gatha, Tod und Aufer­ste­hung Christi, nicht hoch genug eingeschätzt wer­den kann. Er machte es sog­ar zur Grund­lage ein­er Jahreszäh­lung und zeich­nete für die erste Aus­gabe des See­lenkalen­der einen Entwurf, der dies verdeut­licht. Diese Idee rührt an die Grund­festen unseres Weltver­ständ­niss­es, das die Jahre von der Geburt Christi zählt. Erstaunen und Ver­wirrung sind die Folge. Vielfach wird angenom­men, dass Rudolf Stein­er dadurch eine neue Jahreszäh­lung anre­gen wollte, diesen Impuls aber dann nicht weit­er­ver­fol­gte. Vielle­icht. — Ich ver­mute jedoch etwas anderes. Vorher soll Rudolf Stein­er sel­ber zu Wort kommen:

Entwurf Rudolf Stein­ers für den Umschlag des Kalen­ders 1912/13 (in: Beiträge 37/38, S. 35)

In einem Vor­trag sagt er: “Was der Kalen­der als Äußeres hat, ist nur die exo­ter­ische Seite, denn in Wahrheit schreiben wir 1879. Die Zeitver­hält­nisse, die geschaut wer­den kön­nen durch okkulte Beobach­tung, sollen wirk­lich hier zum Aus­druck gebracht wer­den. Damit soll hier begonnen wer­den, denn es ist natür­lich nur ein erster Anfang. Mit dem Mys­teri­um von Gol­gatha ist gegeben die Geburt des Ich-Bewusst­seins inner­halb der Men­schheit. Und diese Tatsche wird allmäh­lich immer mehr und mehr in der geisti­gen Kul­tur unser­er Erde erkan­nt wer­den als bedeut­sam für alle Zukun­ft der Men­schheit. So wird man nach und nach ver­ste­hen, dass es gerecht­fer­tigt ist, das Jahr 1879 zu zählen heute, das heißt 1912 weniger 33. Damit ist auch gegeben, dass die Zeit gerech­net wird von Ostern zu Ostern, dass wir nicht mit dem Jan­u­ar begin­nen, weil, wenn man in der Geburt des Ich-Bewusst­seins etwas Wesentlich­es sieht für die geistige Men­schheit­sen­twick­lung, es auch gerecht­fer­tigt ist, jedes Jahr daran erin­nert zu wer­den, indem diese Geburt des Ich-Bewusst­seins sel­ber bezo­gen wird auf Ver­hält­nisse des Mikrokos­mos und Makrokos­mos. Ein bedeut­samer Zug des Ver­hält­niss­es von Mikrokos­mos und Makrokos­mos ist gegeben, wenn das Oster­fest in Zusam­men­hang mit der Geburt des Ich-Bewusst­seins gedacht wird. Dass heute ver­sucht wird, das Oster­da­tum auf einen bes­timmten Tag zu ver­legen, statt es vom Him­mel abzule­sen, das gehört ganz selb­stver­ständlich zur Sig­natur unser­er Zeit, die für alle äußeren Ver­hält­nisse immer mehr in den Mate­ri­al­is­mus hine­in­stürmt und ver­gisst, was mit dem Spir­ituellen zusam­men­hängt.” (Rudolf Stein­er in Berlin am 23. April 1912, in: Beiträge 37/38, S. 28)

Aus­führlich­er erk­lärt es Rudolf Stein­er in einem Text, der dem Kalen­der 1912/13 (mit Kalen­dar­i­um, Gedenk­tage, Tierkreis­skizzen und Wochen­sprüchen) unter «Was gemeint ist» beigegeben war:Die Zahl eines Jahres wird von je einem Teile der Men­schheit jew­eilig so festgeset­zt, daß die Zäh­lung begonnen wird von einem Ereignisse, das für diesen Teil der Men­schheit als beson­ders wichtig emp­fun­den wird. Die Juden rech­nen von dem Zeit­punk­te an, den sie als «Erschaf­fung der Welt» beze­ich­nen, die Chris­ten von der «Geburt Jesu». In diesen Kalen­derangaben ist von dem Jahre 33–34 der christlichen Zeitrech­nung an gezählt. Es wird dabei jenes Datum der Erde­nentwick­lung zu Grunde gelegt, das für die gesamte Men­schheit ohne Unter­schied von Rasse, Nation und so weit­er von Bedeu­tung ist. Dabei ist die Annahme der «Geis­teswis­senschaft» zu Grunde gelegt, welche in dem angegebe­nen Jahre den Zeit­punkt sieht, in welchem in die Men­schheit­sen­twick­elung die Kräfte einge­treten sind, durch welche das Men­schen-Ich sich ohne Sinnbild durch die Kräfte des eige­nen Vorstel­lungslebens in sich selb­st erfassen und in ein Ver­hält­nis zur Welt brin­gen kann. Vor diesem Zeit­punk­te brauchte der Men­sch, um sich zu erfassen und in die Welt hineinzu­denken, Vorstel­lun­gen, die von der äußeren Wahrnehmung ent­nom­men sind. Die Vor­bere­itung zu diesem Zeit­punk­te liegt ein­er­seits in der althe­bräis­chen Kul­tur, welche zuerst den «Gott im Innern» bild­los zur Erken­nt­nis brachte; andr­er­seits im griechis­chen Geis­tesleben, das sowohl in seinen Kün­stlern wie in seinen Weltweisen den Zeit­punkt dadurch vor­bere­it­ete, daß es den Men­schen durch Vorstel­lung sein­er selb­st als Erden­we­sen erfaßte und in sein­er Philoso­phie das Weltwer­den nicht durch äußere Bilder, son­dern durch Vorstel­lun­gen charak­ter­isierte, die allein dem Men­schen-Innern als denk­en­dem Bewußt­sein entstam­men (Thales bis Aris­tote­les). Das christliche Beken­nt­nis brachte die Empfind­ung gegenüber dieser Men­schheit­stat­sache dadurch zum Ausdruck, daß es in den entsprechen­den Zeit­punkt «Tod und Aufer­ste­hung Christi», das «Mys­teri­um von Gol­gatha» ver­set­zte. Von diesem an sind in den fol­gen­den Angaben die Jahre gezählt. Und in Anlehnung daran ist der Erin­nerungstag an dieses Jahr als der erste in der Jahres-Zäh­lung angenom­men. Ob dazu ein Recht vorhan­den ist gegenüber der Zäh­lung vom ersten Jan­u­ar an, darüber kann man selb­stver­ständlich stre­it­en. Hier soll dies nicht geschehen.” (Beiträge 37/38, S. 38f)

Da mit dem ersten Wochen­spruch stets am Oster­son­ntag begonnen wer­den soll, regte Rudolf Stein­er damit sowohl einen neuen Jahre­san­fang (Ostern) als auch eine neue Jahreszäh­lung an. Wollte er wirk­lich über den eso­ter­ischen Kalen­der hin­aus Jahre­san­fang und ‑zäh­lung rev­o­lu­tion­ieren? Ich kann es mir schw­er vorstellen. Wenn das bewegliche Oster­da­tum beibehal­ten wer­den sollte, wovon ich aus­ge­he, da Rudolf Stein­er das sich darin aus­drück­ende Zusam­men­wirken von Sonne und Mond in vie­len Vorträ­gen als deu­tungsvoll erwäh­nt, so wür­den sich dadurch ein­schnei­dende und höchst unge­wohnte Kon­se­quen­zen ergeben.

Das Jahr von Ostern bis Ostern zu zählen bedeutet, dass die einzel­nen Jahre erhe­blich in ihrer Länge vari­ieren! Diese “Oster-Jahre” haben sel­ten 52 Wochen, wie das für uns gewohnte, mit dem 1. Jan­u­ar begin­nende Jahr. Das früh­este Oster­da­tum ist der 22. März und das späteste der 25. April. Die Dif­ferenz beträgt 35 Tage, d. h. fünf Wochen. Das bedeutet, dass ein “Oster-Jahr” zwis­chen 47 und 57 Wochen dauern kann! Die prak­tis­che Kon­se­quenz ist, dass Men­schen, die in der Osterzeit Geburt­stag haben in manchen “Oster-Jahren” zwei Geburt­stage feiern, in anderen einen oder auch garkeinen. Diese “Oster-Jahr”-Jahreszählung wäre für das reale Leben also wenig prak­tik­a­bel. Eine solche Ver­wirrung wollte Rudolf Stein­er sicher­lich nicht, denn lebens­fremd war er nicht.

Doch was wollte er dann mit dieser Jahreszäh­lung? Es kön­nte sein, dass er neben das sta­tis­che Son­nen-Jahr (Kalen­der­jahr), das schon in vorchristlich-römis­ch­er Zeit am 1. Jan­u­ar begann und stets 52 Wochen hat, ein zweites, flex­i­bles, lebendi­geres Jahr stellen wollte. Das Kalen­der­jahr zählt irdisch — es begin­nt mit der Ankun­ft Jesu auf der Erde. Das “Oster-Jahr” ist indi­vidu­ell und kann als geist­gemäß erlebt wer­den, dem Wesen des Ichs entsprechend. Es zeugt von der Befreiung vom Kör­p­er, vom Geist-Wer­den des Chris­tus am Kar­fre­itag, seinem Tod am Kreuz und von der fol­gen­den Besiegung des Todes durch die Aufer­ste­hung am Oster­son­ntag. Und so sprengt das “Oster-Jahr” auch die feste Quan­tität des Kalenderjahres.

Ich nenne dieses “Oster-Jahr” das “Ich-Jahr” im Unter­schied zum Kalen­der­jahr. Das “Oster-Jahr” ist also stets 33 1/4 Jahre “jünger”, als das Kalen­der­jahr. Wir trat­en also am 9. April 2023 mit Beginn der Oster­woche in das “Ich-Jahr” 1990 (2023 — 33 = 1990) ein. Im Jahr 2024 wer­den wir mit dem Oster­son­ntag am 31. März das “Ich-Jahr” 1991 beginnen.

Rudolf Stein­er sagt, dass es in der Geschichte immer 33 Jahre dauert, bis ein Gedanke äußere, geschichtliche Real­ität wird.

“Welche Aus­sicht­en für das Ostern nach dreiund­dreißig Jahren ver­spricht das Wei­h­nacht­en von diesem Jahre? — Denn alle Dinge im geschichtlichen Wer­den erste­hen nach dreiund­dreißig Jahren in ver­wan­del­ter Gestalt aus dem Grabe, durch eine Gewalt, die zusam­men­hängt mit dem Heilig­sten und Erlösend­sten, das die Men­schheit durch das Mys­teri­um von Gol­gatha bekom­men hat. (…) Werde man sich bewußt, daß eine Gen­er­a­tion zu der nach­fol­gen­den so hinzuschauen hat, daß sie zu gedenken hat: Im Wei­h­nachtssterne lehre ich dich pflanzen in dein­er Seele als Geburt das­jenige, was aufer­ste­hen wird im Oster­sterne nach dreiund­dreißig Jahren. Weiß ich diesen Zusam­men­hang zwis­chen dieser und der fol­gen­den Gen­er­a­tion, dann habe ich gewon­nen — so kann sich jed­er sagen — einen Impuls in aller Arbeit, der hin­aus­re­icht über den Tag.” (Lit.: GA 180, Vor­trag vom 23.12.1917).

Mit anderen Worten: was wir heute 2024 auf der geschichtlichen Bühne erleben, wurde vor 33 Jahren, also 1991 von einzel­nen als Gedanke der Men­schheit eingepflanzt. Bildlich gesprochen schlüpft nach 33 Jahren das in der Innen­welt – im Ei – lange bebrütete Küken und wird sicht­bar. Nun begin­nt der Gedanke sein eigenes Leben, er zeit­igt Kon­se­quen­zen und ist ein eigen­ständi­ges, von seinem Schöpfer unab­hängiges Wesen — wie das geschlüpfte Küken.

Die weiße Göttin des Todes und der Wiedergeburt

Von der Steinzeit bis in geschichtliche Zeit war eine weiße Göt­tin Beglei­t­erin der Toten. In ganz Europa wurde Ver­stor­be­nen eine helle Fig­ur mit ins Grab gegeben, wie Aus­grabun­gen zeigten. Sie wurde in der Nähe des Herzens platziert, das Grab sel­ber hat­te häu­fig eine Form, die an einen Mut­ter­schoß erin­nert. Diese Göt­tin wird die „Starre Nack­te“ genan­nt und wurde stets aus weißem Stein oder Ton gefer­tigt. Ihr Gesicht zeigt meist nur eine scharf her­vorste­hende Nase, die an einen Vogelschn­abel denken lässt. Weit­ere Merk­male sind stark abstrahierte oder ver­schränk­te Arme, ein großes Scham­dreieck und einen ger­aden, manch­mal knochi­gen Kör­per­bau. Die Arme kön­nen so reduziert sein, dass sie wie der Quer­balken eines Kreuzes wirken.

Die Starre Nack­te, die weiße Göt­tin des Todes und der Wiederge­burt, Mar­mor, süd­griechisch Anfang 6. Jahrtausend

Die obige Fig­ur ist die älteste, die ich fand. Ihr run­des Gesäß erin­nert an die Venus von Wil­len­dorf. Deshalb habe ich sie in gle­ich­er Ori­en­tierung in den Jahreskreis gestellt. Das Win­ter-Hal­b­jahr ist unten, das Som­mer-Hal­b­jahr oben. Doch im Som­mer-Hal­b­jahr, wo die nähren­den Brüste der Venus von Wil­len­dorf sind, wird die hier abge­bildete Fig­ur knochig. Der senkrechte Zylin­der ist durch die Nase, die einem Vogelschn­abel ähnelt, als Kopf zu erken­nen. Zusam­men mit dem Quer­balken, den “Armen” wirkt die obere Par­tie wie ein Kreuz.  Mich lässt die Fig­ur an einen Reich­sapfel denken – an einen Apfel mit einem Kreuz darauf. Die Form entspricht dem astrol­o­gis­chen Zeichen für die Erde, einem Kreis mit aufgerichtetem Kreuz.

Die Fig­uren in den fol­gen­den vier Abbil­dun­gen zeigen, dass es tat­säch­lich auf die Kreuz­form anzukom­men schien:

Die Starre-Nack­te der Gräber, die Göt­tin des Todes und der Wiederge­burt war aus Knochen, weißem Stein oder hellem Ton gefer­tigt, von links nach rechts:

1. Knochen­stat­uette, Nordi­tal­ien, neolithisch

2. Alabaster­fig­ur, Sar­dinien, ca. 4000 v.Chr.

3. Alabaster­fig­ur, Sar­dinien, früh­es 4. Jahrtausend

4. Mar­mor­fig­ur, Kyk­laden 2800 – 2400 v.Chr.

Mit der Weißen Göt­tin ist tat­säch­lich nie­mand anderes als die Mut­ter allen Lebens, unsere Mut­ter Erde gemeint. Gräber wur­den damals in Form eines Mut­ter­schoßes angelegt, um in ihrem Bauch auf die Wiederge­burt zu warten.

In den Mythen und Sagen zahlre­ich­er Völk­er hat die Weiße Göt­tin ihre Spuren hin­ter­lassen. Wenn sie den nahen­den Tod verkün­dete, hat­te sie häu­fig die Gestalt eines Raub­vo­gels oder ein­er Giftschlange. Mar­i­ja Gimbu­tas (1921 — 1994) schreibt: „… in der litauis­chen Über­liefer­ung kündigt sich der Tod durch eine kriechende Giftschlange an. Der Name der litauis­chen Todes­göt­tin ver­rät einiges: Sie heißt Giltine, und <gilti> heißt so viel wie <Stechen>. Der­sel­ben Wort­fam­i­lie gehören galas (Ende) und gel­tonas (Gelb – die Farbe der Knochen) an. In Erzäh­lun­gen wird sie als die Schwest­er Laimas beze­ich­net, die die Lebenss­panne bemisst.“ (Die Zivil­i­sa­tion der Göt­tin, 2. Aufl. 1998, S. 242)

Als Göt­tin Hol­la hat die weiße Göt­tin schneeweiße oder gold­ene Haare. Auch in der Gestalt eines Frosches kann sie erscheinen, um den roten Apfel, das Sym­bol des Lebens, aus dem Brun­nen zurück­zu­holen, in den er bei der Ernte gefall­en war. Das Reich der weißen Göt­tin ist die Tiefe der Erde, die Klüfte und Höhlen der Berge. Ihr Ruf kann kla­gend, stöh­nend oder einem Vogel­ruf ähneln – oder noch viel rät­sel­hafter klin­gen, wie das Plätsch­ern von Wass­er oder das Sprudeln der Aale, das Klopfen an ein­er Türe oder auf einen Tisch, das Knallen ein­er Peitsche das Klir­ren von Gläsern! Manch­mal ist sie die große Wäscherin, die alle wieder so rein und weiß wäscht, wie sie sel­ber ist.

Als jugendliche Göt­tin erscheint sie im Früh­ling, manch­mal in Gestalt ein­er weißen Taube, die Frucht­barkeit ver­heißt. Lachend und tanzend geht sie in der slaw­is­chen Mytholo­gie als die weiße Göt­tin Lel­ja über das Land und erfüllt es mit Vogel­gezwitsch­er und Blü­ten­duft. Die Weiße Göt­tin zeigt den Tod als Ver­sprechen neuen Lebens.

Die Weiße Göt­tin scheint mir auch durch das Mantra 52 z hin­durch zu schim­mern, indem es in der Kar­woche, der Woche der Kreuzi­gung und des Todes von Jesus Chris­tus heißt, dass die Kraft des Lebens in Men­schen­leiber einzieht.

Was das Mantra 52 z sagt

Trauer und Klage sucht man im Mantra der Kar­woche vergebens. Lediglich die Strenge der Wenn-Dann-Aus­sage lässt das für die ganze Erde schick­sal­hafte Geschehen der Kar­woche erah­nen. Das Mantra 52 z spricht von einem geset­zmäßi­gen Zusam­men­hang, ein­er naturge­set­zlichen Notwendigkeit: Das „Wenn …. dann …“ bes­timmt das ganze Mantra. Wenn der Geist sich an das Wel­ten­sein wen­det, löst seine Bewe­gung aus den See­len­tiefen hin zur Welt einen Prozess aus — sofern zu dem “Sich-Wen­den” ein Zweites, das “Quellen der Schön­heit” hinzutritt. Auch das “Dann”, die Kon­se­quenz erfol­gt zwei­gliedrig: des Lebens Kraft zieht in Men­schen­leiber und bewirkt die Vere­ini­gung des Geistes mit dem Menschensein.

Mit dem Mantra 52 z kommt ein Abstiegsprozess an sein Ende, der mit dem ersten Mantra des Win­ter-Hal­b­jahres (27 a) begonnen hat­te. Dort heißt es: “In meines Wesens Tiefen drin­gen …” Nun, im let­zten Mantra des Win­ter-Hal­b­jahres kommt es an diesem End­punkt zu ein­er Wende. Der Geist aus den See­len­tiefen ist der men­schliche Geist. Wenn dieser Geist sich wen­det, weil sein Abstieg in die See­len­tiefen been­det ist, weil der tief­ste Punkt, das “Grab”, erre­icht ist, wenn er sich nun umwen­det, um erneut aufzusteigen — sich wieder der Welt, dem Wel­ten­sein zuwen­det und begin­nt erneut außen wahrzunehmen — dann entste­ht eine neue Sit­u­a­tion.  Leise klingt hier der kom­mende Schwellenüber­tritt ins Som­mer-Hal­b­jahr an.

Wie eine Res­o­nanz auf die Umwen­dung des Geistes kommt aus den Raumesweit­en ein Echo. Mit “Und” ver­bun­den mit der Ursache, — der Wen­dung des men­schlichen Geistes zum Wel­ten­sein, — quillt die Schön­heit aus Raumesweit­en her­vor. Jede Wahrnehmung offen­bart zunächst Schön­heit, doch wenn der Ver­stand hinzukommt und urteilt, verblasst die Unmit­tel­barkeit und die Schön­heit. Dann erscheint nur das als schön, was den eige­nen Vorstel­lun­gen und Nor­men entspricht. Wenn der urteilende Ver­stand schweigt, offen­bart alles sein gottge­wolltes Sein — und erstrahlt so im göt­tlichen Licht. Die Schön­heit quillt aus Raumesweit­en – sie quillt aus dem Umkreis her­vor und strebt zum Zen­trum. In meinem inneren Bild quillt sie aus dem Hor­i­zon­tkreis mein­er Wahrnehmung und strömt zum Mit­telpunkt — zu mir. Sie quillt wie das Wass­er aus der Quelle — jedoch nicht vom Zen­trum, son­dern von den Rän­dern aus. — Sie sick­ert vom Umkreis der Raumesweit­en in meine Seele. Ist Schön­heit vielle­icht die sub­stanzielle Grund­lage des oft gesucht­en Wassers des Lebens? Die unmit­tel­bar erlebte Wahrnehmung bein­hal­tet auf jeden Fall belebende Kraft.

Nun erfahren wir die Kon­se­quenz, das „Dann“: Wenn diese zwei Bedin­gun­gen erfüllt sind, wenn sich der Geist wen­det und die Schön­heit quillt, dann zieht des Lebens Kraft in Men­schen­leiber. Dann zieht aus Him­mels­fer­nen Leben­skraft in den Leib ein. Im gewöhn­lichen Bewusst­sein beziehen wir unsere Leben­skraft aus der Nahrung, das heißt von der Erde. Doch hier han­delt es sich um eine himm­lis­che Kraftquelle, eine himm­lis­che Ernährung. Die Leben­skraft stammt aus Him­mels­fer­nen. Es ist das Leben sel­ber, das einzieht. In der Schöp­fungs­geschichte des Alten Tes­ta­ments (Gen­e­sis, 1. Buch Mose) wird beschrieben, wie Gott den ersten Men­schen, Adam, aus Lehm formt und ihm im zweit­en Schritt seinen lebendi­gen Atem ein­haucht. Eine große erste Einat­mung geschieht im Mantra 52 z, nach­dem alle vorherge­hen­den Mantren des Win­ter-Hal­b­jahres betra­chtet wer­den kön­nen als die For­mung dieses Menschenleibes.

Und mit dem Einziehen der Leben­skraft in die Leiber der Men­schen ist noch etwas anderes ver­bun­den. Mit der einziehen­den Leben­skraft eint sich auch das Wesen des Geistes mit dem Men­schen­sein. Indem das Leben einzieht in den Leib, ihn bewohnt, vere­int sich das Lebens­ge­setz des Geistes mit dem Men­schen. Nun herrscht nicht nur die Erde mit ihren Geset­zen über ihn, son­dern auch der Geist, der Himmel.

Was bedeutet das? Das Wesen des Geistes ist schöpferisches Bewusst­sein. Mit dem Einziehen des Lebens wird der irdis­che Men­sch befähigt, Bewusst­sein zu bilden. Von Adam wird im Anschluss an seine Erschaf­fung und Bele­bung berichtet, wie er allen Tieren ihre Namen gibt und dadurch die Schöpfer­kraft seines neu gewonnenen Bewusst­seins kund­tut. Indem das Wesen des Geistes sich mit dem Men­schen­sein vere­inigte, erhält der Men­sch Bewusst­sein, seinen göt­tlichen Funken. Durch diese Vere­ini­gung wird der Men­sch zum Menschen.

Mit dem aus Him­mels­fer­nen her­ab­strö­menden Leben erhält er die Möglichkeit, wieder aufzusteigen, sich zu wen­den – wie es das Mantra ein­gangs beschreibt. Ein senkrecht auf Erden ste­hen­der Kreis­lauf wird sicht­bar von sich inkarnieren­dem, absteigen­den Leben und auf­steigen­dem Geist, von Bewusst­sein – ein ewiger Zyk­lus. Auch der Jahreskreis zeigt sich im spon­ta­nen inneren Bild als eine solche senkrecht vor dem inneren Bild ste­hende Vorstel­lung — das Som­mer-Hal­b­jahr oben, das Win­ter-Hal­b­jahr unten.