Die spiegelnden Krisenspruch-Mantren 7 G und 46 u
7 G Mein Selbst, es drohet zu entfliehen, Vom Weltenlichte mächtig angezogen. Nun trete du mein Ahnen In deine Rechte kräftig ein, Ersetze mir des Denkens Macht, Das in der Sinne Schein Sich selbst verlieren will. |
46 u Die Welt, sie drohet zu betäuben Der Seele eingeborene Kraft; Nun trete du, Erinnerung, Aus Geistestiefen leuchtend auf Und stärke mir das Schauen, Das nur durch Willenskräfte Sich selbst erhalten kann. |
Musik zum Mantra 7 G — sanglich — komponiert von Herbert Lippmann
Die Krisensprüche als Wendepunkte
Die vier sogenannten Krisensprüche (7 G, 20 T, 33 g, 46 u) sind jeweils die mittleren Mantren ihres Vierteljahres von 13 Wochen. Wird die Kreisbewegung des Jahreskreises in geknickte Geraden verwandelt, mit vier nach innen gerichteten rechten Winkeln, bilden die Krisensprüche die Eckpunkte des entstehenden Quadrates. Die Krisensprüche sind also Wendepunkte, an denen die waagerechte Bewegung sich zur senkrechten wandelt — oder umgekehrt. Wird diese Neuausrichtung versäumt und die gerade Bewegung fortgesetzt, schießt sie über ihr Ziel hinaus, was naturgemäß eine krisenhafte Situation erzeugt.
Über die Spiegelsprüche 7 G und 46 u
Wie bei allen Krisensprüchen sind die Mantren 7 G und 46 u aus der Perspektive eines sich selbst reflektierenden Sprechers geschrieben, den ich den Ich-Sprecher zu nennen pflege. Im Vergleich zu den Mantren-Paaren 6 F — 47 v und 5 E — 48 w spiegeln die Mantren 7 G — 46 u stärker, d. h. es treten mehr grammatische Entsprechungen auf.
In beiden Mantren geht es um das Verhältnis des äußeren und inneren Lichtes und um die Selbstwahrnehmung des Menschen. Im Mantra 7 G ist es das Weltenlicht, das überstark anziehend auf das Selbst wirkt, sodass die Selbstwahrnehmung droht verloren zu gehen. Im Mantra 46 u bedroht die Welt die eingeborene Kraft der Seele, d. h. die Kraft, Bewusstseinslicht hervorzubringen und den eigenen Seeleninnenraum zu erleuchten. Diese Fähigkeit droht von der Welt betäubt zu werden. In beiden Mantren ist es die Welt, von der die Gefahr ausgeht: vom Weltenlicht (7 G) und von der Welt (46 u) ohne nähere Spezifizierung. Möglicher Weise ist die Welt in diesem Fall als eine verdunkelnde Finsterniskraft anzusprechen.
Wann entflieht das Selbst? Rudolf Steiner beschreibt dies für übermäßiges Lustempfinden: “Was heißt denn das: in Lust verfallen? In Lust verfallen heißt eigentlich, sich an die Umgebung verlieren. Alles, was Lust macht, ist eigentlich ein Sichverlieren des Menschen.” (Lit.: GA 278, S. 30) In Lust zu verfallen, sich den Sinnesreizen überstark hinzugeben bedeutet also, sich in der Wahrnehmung zu verlieren. Dem stellt Rudolf Steiner, direkt an obigen Text anschließend, das Erleben des Schmerzes gegenüber: “Und alles, was Schmerz macht, ist ein zu starkes Sichgewahrwerden. Man findet sich zuviel, wenn man Schmerz hat. … Sie sind zuviel bei sich, Sie haben sich zuviel gefunden im Schmerz, und Sie sind im Verlieren oder verlieren sich ganz in der Lust. Das harmonische Empfinden des Menschen bildet die Gleichgewichtslage zwischen Lust und Schmerz, weder das Aufgehen in Lust noch das Aufgehen in Schmerz.” (Lit.: GA 278, S. 30)
Schildert das Mantra 46 u nun die zu starke Selbstwahrnehmung im Schmerz? Nein, es spricht von Betäubung — einer Variante, die Selbstwahrnehmung zu verlieren. Das Mantra beschreibt als Gefahr, was gemeinhin bei starken Schmerzen unternommen wird — sie werden betäubt. Die angemessene Bewusstseinsbildung wird von der Welt herabgedämpft, droht verhindert zu werden in der Betäubung. Das kann nur geschehen, wenn der innere Lichtbildeprozess zu schwach ist und gegen die mit der Welt verbundene verdunkelnde Finsterniskraft nicht ankommt.
Auch ein Blick auf die Nerven und ihre Funktionsweise erscheint mir hilfreich zum Verständnis der beiden Mantren. Die Sinne des Menschen können sowohl überreizt als auch depriviert werden. Beides hat für den Menschen negative Folgen. Im Mantra 7 G kann eine Überreizung durch das Weltenlicht erkannt werden, im Mantra 46 u eine Deprivation durch zu geringe Anregung des inneren Lichtprozesses.
Doch die Mantren bilden nicht nur zwei Extreme ab, auch ihr Fokus unterscheidet sich. Im Mantra 7 G geht es um die Wirkung des Weltenlichtes auf das Selbst, auf die Selbstwahrnehmung, die durch Überreizung verloren zu gehen droht. Im Mantra 46 u bildet dagegen die von der Welt verursachte Betäubung, die zu starke Reizminderung der Sinne den Ausgangspunkt.
In beiden Mantren wird zur Rettung eine Kraft aufgerufen, in den Raum des Geschehens zu treten: im Mantra (7 G) ist es die Ahnung und im Mantra (46 u) die Erinnerung. Ahnen zeigt sich in dieser Gegenüberstellung als zukunftsgerichtete Bewusstseinskraft, da Erinnerung in die Vergangenheit weist. In beiden Mantren wird die rettende Kraft als ein Du angesprochen, als ein inneres Gegenüber. Im Mantra 7 G wird das Ahnen als zum Ich-Sprecher gehörig beschrieben. Es ist damit kein Wahrnehmungsorgan für eine allgemeingültige Zukunft, sondern von der Person abhängig. Von der Erinnerung kann ebenso angenommen werden, dass sie zum Ich-Sprecher gehört, denn Erinnerung ist stets subjektiv-persönlicher Natur.
Das Ahnen (7 G) soll die Macht des Denkens ersetzen, da das Denken das immanente Bestreben hat, sich im Schein der Sinne zu verlieren. Der analytische, zergliedernde Verstand beraubt das Ich durch die Atomisierung der Physis seines Spiegelungsapparates. Das Selbst ist laut Rudolf Steiner die Spiegelung des rein geistigen Ichs am physischen Leib. Das Denken benötigt ein Gegengewicht. Die Ahnung kann, was das Denken nicht vermag. Sie kann die Einzelbeobachtung nicht nur in einen Ursache-Wirkungszusammenhang einordnen, sondern in einen weit größeren Sinnzusammenhang stellen, der erst im Begriff ist, sich zu entfalten, weil er sich aus der vorausgeahnten Zukunft begründet.
Die Erinnerung (46 u) tritt leuchtend auf und stärkt dadurch die eingeborene Kraft der Seele, ihre Kraft, Bewusstsein im eigenen Seelenraum zu bilden. Schon der Erinnerungsvorgang selber ist lichtvoll, denn mit jeder wieder ins Bewusstsein tretenden vergangenen Situation ist ein inneres Lichterlebnis verbunden. Noch mehr gilt das für die in der Biographiearbeit stattfindende Reflektion der eigenen Vergangenheit. Sie versucht das hinter und durch die Einzelsituationen wirkende geistige Ich erlebbar zu machen. Dadurch wird das Schauen, das Überblicken sinnvoller Zusammenhänge durch die Erinnerung gestärkt. Doch diese innere Aktivität muss gewollt werden. Das Schauen kann sich nur durch Willenskräfte erhalten. Die eingeborene Kraft der Seele wird zum einen durch das schauende Erinnern, zum anderen durch die dafür nötige Willensanstrengung fähig, der Betäubung durch die Welt genügend eigene Licht-Kraft entgegen zu setzen.
Die Ahnung wird aufgerufen in ihre Rechte einzutreten. Die Erinnerung tritt dagegen aus Geistestiefen leuchtend auf. Die Ahnung wird aufgerufen, ihren rechtmäßigen Platz in der Seele einzunehmen, um das Denken zu ersetzen. Ein Regierungswechsel soll quasi stattfinden. Die Erinnerung soll leuchtend auftreten — der König soll erscheinen. Die Erinnerung ist eine Qualität des Denkens, denn Denken beruht auf gemachten Erfahrungen und entwickelten Begriffen. Im Denkprozess bildet Erinnerung die Grundlage. Die Erinnerung kommt aus einem Innen und einer Mehrzahl von Tiefen — von dort kommt sie heraus — aus den Geistestiefen. Der Geist ist am tiefsten in der Physis herabgestiegen. Die Geistestiefen können als Zellgedächtnis verstanden werden.
Es geht also in beiden Mantren um den angemessenen Umgang mit der Wahrnehmung — der äußeren und der inneren. Als äußere Sinneswahrnehmung darf sie vom Denken und der Suche nach immer neuen Begründungen und Beweisen nicht zerdacht werden, soll das Selbst darin erscheinen können. Als Wahrnehmung des eigenen Seeleninnenraums darf das Bewusstsein nicht von der Welt betäubt, von der Außenwahrnehmung nicht überlagert werden.
Zum Mantra 7 G scheint mir zu gehören, was mit dem Naturgott “Pan” verbunden ist. Pan ist der Hirtengott der griechischen Mythologie. Er lehrte das Spiel der siebenrohrigen Panflöte und liebte Tanz, Musik und Fröhlichkeit. Er war ein Mischwesen und hatte den Oberkörper eines Menschen und den Unterkörper eines Widders oder eines Ziegenbockes. Auf dem Kopf trug er Hörner. Als Gott der Felder, Weiden und Wälder wurde er von den Hirten verehrt. Doch seinen Anblick fürchteten sie. Die Mittagsstunde war ihm heilig. Wer sie nicht wahrte, lief Gefahr, dass Pan sein Vieh in panischen Schrecken versetzte. Das Motiv des Weltenlichtes findet sich in der Mittagsstunde und die Gefahr des Selbstverlustes in der Panik, die nach dem Gott Pan benannt wurde. Wurde die Mittagsstunde zur Besinnung genutzt, die Überreizung der Sinne vermieden und das Lebendig-Wesenhafte in der Wahrnehmung geahnt, war die Gefahr des Selbstverlustes gebannt. Drohte dagegen das Selbst zu entfliehen, machte sich Panik breit.
Die Gefahr der Betäubung der eingeborenen Kraft der Seele (46 u) könnte sich dagegen in Medusa finden. Sie ist eine von drei Gorgonen-Schwestern und als einzige sterblich. Jeder der sie ansah, erstarrte zu Stein. Diese Macht hatte sogar noch das von Perseus abgeschlagene Haupt der Medusa, das Athene später als besonderen Schutz auf ihrem Schild befestigte. Als Medusa enthauptet war, entsprangen aus ihrem Hals Pegasos, das geflügelte Pferd der Phantasie und Chrysaor, der Krieger Goldschwert, der manchmal ebenso als Pferd dargestellt wird. Das Pferd ist Bild für das Denken — und die zwei ungleichen Pferde-Geschwister sind Bild für die zwei verschiedenen Arten den Verstand zu benutzen: phantasievoll oder logisch-kämpferisch. Mit der Enthauptung der Medusa ist die betäubende Kraft zwar überwunden, der Mensch kann geistig rege denken, doch das Schauen, die Geistesschau, ist dadurch noch nicht zurückgewonnen. Dafür wird die Erinnerung gebraucht.
Der Mittagsstunde des Pan steht die Mitternachtsstunde im Tag-Nacht Zyklus gegenüber. Dies ist die Zeit, zu der die Christgeburt zur Mittwinterzeit gefeiert wird. Dieses Fest kann als Erinnerungsfest verstanden werden — als leuchtend auftretende Erinnerung an die eingeborene Kraft der Seele — an das in die Seele hineingeborene Ich des Menschen. Die Formulierung des Mantras lässt die Worte des Johannesevangeliums (3, 16) mitklingen, in denen Jesus als Gottes eingeborener Sohn bezeichnet wird.
Unter diesem Aspekt zeigt sich auch das Ahnen als noch etwas anderes. Findet sich in der Geburt Jesu der Anfang seines Erdenwirkens, so bildet das Ende die Himmelfahrt. Seit dieser Zeit sitzt Christus im Himmel zur Rechten des Vaters. Indem das Ahnen in seine Rechte kräftig eintreten soll, klingt dieses Weltenrichtertum des Christus in ferner Zukunft mit.