7 G
Mein Selbst, es drohet zu entfliehen,
Vom Weltenlichte mächtig angezogen.
Nun trete du mein Ahnen
In deine Rechte kräftig ein,
Ersetze mir des Denkens Macht,
Das in der Sinne Schein
Sich selbst verlieren will.
Das Kreuz der Krisensprüche
Das Mantra 7 G bildet die Mitte des ersten Vierteljahres, das wie die anderen Viertel aus 13 Wochensprüchen besteht. Es gehört zu den vier sogenannten Droh- Warn- oder Krisensprüchen, die jeweils die mittleren Sprüche ihrer Vierteljahre sind. Sie bilden zusammen ein rechtwinkliges, diagonales Kreuz im Seelenkalender-Jahr. Durch ihren warnenden Inhalt kann ich sie als vergleichsweise düster wahrnehmen und ihr Kreuz als dunkles Pendant zum Kreuz der Lichtsprüche erkennen. Alle vier Krisensprüche sind aus der Perspektive eines die Gefahr bewusst wahrnehmenden Ich-Sprechers geschrieben. Jeder Spruch beschreibt eine Gefahr, der sich der Mensch bewusst stellen muss. Die Lichtsprüche dagegen beschreiben im Unterbewusstsein wirkende, göttliche Kräfte. Sie sind durchgehend in der dritten Person Singular geschrieben, wodurch die Aussagen allgemeingültig-neutralen Charakter haben.
Ich kann die vier Krisensprüche als Kanten einer geistigen Pyramide betrachten, wenn ich mir vorstelle, dass mit den vier Jahreszeiten vier geistige Kräfte verbunden sind, die aus den vier Himmelsrichtungen jeweils in Richtung des Zentrums wirken. Rudolf Steiner beschreibt genau dieses Bild für die vier Wesensglieder. In den Krisensprüchen findet viermal im Jahr ein Übergang statt vom Einflussbereich der einen Kraft in den nächsten. Der Grenzübertritt von einem Hoheitsgebiet in das nächste kann als Krise wahrgenommen werden, denn nun gelten plötzlich ganz neue Bedingungen und Gesetze.
Die Wirkrichtungen der vier Wesensglieder in den Jahreskreis gestellt, Rudolf Steiner, GA 115, S. 39 (ohne Empfindungsseele und Empfindungsleib)
Cheopspyramide im Seelenkalender-Jahreskreis mit den Krisensprüchen als Kanten
Krise und Rettung — was passiert im Mantra 7 G?
Mein Selbst wird vom Weltenlicht so mächtig angezogen, angesogen, dass es zu entfliehen droht. Mein Selbst ist nach Rudolf Steiner (siehe Mantra 6 F), mein Ich, das sich im physischen Leib spiegelt. Das Weltenlicht ist zunächst die äußere Sonne, sie erleuchtet die Welt, sie ist das weltliche Licht. Das Weltenlicht ist dadurch auch die ganze, meinen Verstand weckende Wahrnehmungswelt, die durch die Sonne beleuchtet und sichtbar wird. Das Weltenlicht ist damit mein Licht, mein auf die Erde gerichteter Verstand, der den äußeren Schein für die einzige Wahrheit hält — die Maya der Physis nicht durchschaut. Wird dieser Verstand zu mächtig, entflieht die im Mantra 6 F gewonnene Offenbarung meines Selbst als wahres Abbild des göttlichen Urbildes. Das Ich kann in den Zeit- und Raumeskräften sich nicht mehr so spiegeln, dass das Selbst als wahres Abbild des göttlichen Urbildes sichtbar wird. Das Selbst droht dadurch seine Geistigkeit, sein Geistselbst-Sein zu verlieren. Das ist die Problemlage. Drei Zugänge des Erlebens möchte ich schildern:
Die erste Ebene betrifft den immer genauer beobachtenden Verstand, der droht über sein Ziel hinauszuschießen. Es besteht die Gefahr, dass der Verstand von der Vielzahl der Sinneseindrücke, die alle der Seele Wahrheit vermitteln, so stark angezogen wird, dass die Welt des Geistigen nicht mehr geschaut werden kann. Der Verstand ist eine Gefahr, wenn er zu hell, zu klug, zu einseitig ausgerichtet strahlt — wenn er Weltenlicht ist.
Die zweite Ebene des Verlusts betrifft das Selbst. Wer nicht in seiner Mitte bleiben kann, wer sich verliert in der Vielzahl der äußeren Reize, in Sorgen und angestrebten Zielen, wer nicht mehr fühlend präsent ist in sich, dem geht sein Selbst, seine Selbstwahrnehmung verloren. Das Bewusstsein der eigenen Gestimmtheit, des eigenen Fühlens, das sich im Körper ausdrückt, darf bei aller Orientierung nach außen nicht verschwinden. Das Wechselspiel von Selbst- und Außenwahrnehmung muss im Gleichgewicht bleiben. Geht die vom Körper vermittelte Innensicht verloren, verliert das Ich den Körper als Spiegelmedium. Dadurch entflieht das Selbst. Wer meint, seinen Zielen hinterherjagen und sich nach äußeren Normen richten zu müssen, der überschreitet seine Grenzen und merkt es nicht. Der droht, krank zu werden.
Die dritte Ebene, auf der das drohende Entfliehen des Selbst und sein Angesogenwerden durch das Weltenlicht erlebt werden kann, ist das Zeiterleben. Dauerte eine Tätigkeit früher so lange, wie der Mensch eben dazu brauchte, leben wir heute nach der Uhr. Wir hetzen uns ab, rennen der Zeit hinterher und unterwerfen uns der nun mechanisierten, genormten Zeit. Die Uhr, die den Sonnenlauf nachahmt, kann ich als weiteren Ausdruck des Weltenlichts sehen. Der Takt der Uhr führt uns weg vom tatsächlichen Erleben, macht uns blind für das Lebendige. Indem wir uns nach der Uhr und nicht nach unserem Bedürfnis richten, geben wir unsere Zeit-Autonomie ab, binden unser Selbst an die Uhr. Sie zieht es an, sodass es uns entflieht.
Als Lösung bittet der sich des Problems bewusste Ich-Sprecher eine andere Kraft auf den Plan, sein Ahnen. Ahnen bedeutet gerade nicht sicher zu wissen, nicht klar zu erkennen, sondern sich einzulassen auf das Unbestimmte aus dem Unterbewusstsein Aufsteigende, mehr fühlend Wahrzunehmende, das größer und, weisheitsvoller ist, als der Verstand. Das Ahnen soll die Macht des Denkens ersetzen, denn das Denken hat die Tendenz, sich in dem durch die Sinne vermittelten Schein zu verlieren. Mit dem Spruch 7 G wird eine wohlbekannte Grenze erreicht. Die bisher immer zu weiteren Höhen führende bewusste Verstandesmacht, das Denken, muss ersetzt, abgelöst werden, soll das Selbst, das Bewusstsein ein geistig-physisches Wesen zu sein, nicht entfliehen. Der geistige Teil des Menschen lässt sich nicht auf die gleiche Art denkend, zählend, messend, wiegend begreifen, festhalten, definieren, wie das für den physischen Teil möglich ist. Das Lebendige entflieht, wenn versucht wird, es nur mit dem an der materiellen Welt geschulten Denken zu begreifen.
Ahnen hängt zusammen mit Ahne, mit Vorfahre. Mein bereits verstorbener Vorfahre kann nur geahnt, nicht äußerlich wahrgenommen werden. Gelingt mir dies, so gewinne ich die Sicherheit, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist und mein Selbst nicht im Nichts verschwindet, entflieht. Ahnen ist die Erkenntniskraft, die das Denken notwendig ergänzen muss, soll nicht nur die sichtbare, sondern auch die Unsichtbare Welt ins Bewusstsein gelangen. Ahnen ermöglicht, den Strom des Lebens von einer Generation zur anderen wahrzunehmen. Wer sich auf seine Vor-Ahnung verlassen kann, erfährt sein Leben wie von einer umfassenderen Bewusstseinsmacht geführt, während die Führung durch das eigene, irdische Denken kurzsichtig erscheint.
Das Ahnen wird als ein Du angesprochen und dem Denken wird Macht zugesprochen. Diese beiden Erkenntniskräfte stellen sich dadurch wie zwei ungleiche Brüder dar. Das Denken übt seine Macht ungefragt aus, die Ahnung muss aufgefordert werden. Sie drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern muss vom Ich-Sprecher gewollt, aktiviert werden, von ihm eigens aufgerufen werden. Die Ahnung übt ihre Rechte nicht automatisch aus, so wie wir das vom Denken kennen. Das Denken führt in uns ganz ungefragt einen ununterbrochenen inneren Dialog, kommentiert und bewertet alles aufgrund früherer Erlebnisse. Das Denken klebt dadurch an der Vergangenheit und ist für die Gegenwart nicht offen, es ist voreingenommen. Das ist ein Problem. Der Ich-Sprecher muss sein Ahnen auffordern, in seine Rechte einzutreten. Das Ahnen muss bewusst ermächtigt werden, die ihm zustehenden Rechte auch wahrzunehmen. Der Ich-Sprecher muss sein Ahnen ermutigen, an die Stelle des Denkens zu treten und es zu ersetzen. Nur dadurch lässt sich der ununterbrochene innere Dialog des Denkens stoppen.
Ich denke in Bezug auf Denken und Ahnung auch an die verschiedenen Aktivitäten der rechten und linken Gehirnhälfte. Das Denken der linken Gehirnhälfte ist analytisch, linear, logisch, und es ist kontrollierend, sofern es auf vergangenen Erfahrungen baut. Das Denken der rechten Gehirnhälfte ist ganzheitlich-holistisch, schöpferisch, phantasievoll und ahnend offen für Unbekanntes, der Zukunft zugewandt. Sicherlich wirkt bei letzterem die Ahnung mit, dass es mehr gibt als das, was der irdische Verstand erfassen kann.
Das primär logische Denken verliert sich selber im Schein der Sinne. Es ist der Maya der äußeren Welt nicht gewachsen. Es ist damit dem nicht gewachsen, was die Sinne als scheinbar einzige Wahrheit vermitteln. Das Denken will sich in dem Schein, in dem Licht, das die Sinne liefern, verlieren. Es geht in diesem Licht auf, denn dieses Licht entspricht seiner Natur. Die Zusammengehörigkeit von Weltenlicht und Denken zeigt sich im Mantra auch durch die Worte mächtig und Macht: das Weltenlicht wirkt mächtig anziehend, das Denken hat Macht. Im Lichtreich hat das Denken Macht. Das im Dunkeln liegende, Unsichtbare, entzieht sich seinem Zugriff. In diese Bereiche, in das Unbewusste, in die nicht-irdische Welt, lässt sich nur eindringen, wenn die Ahnung das Denken führt. Das Selbst als Spiegelung des Ichs an der Physis entflieht, wenn die geistige Wahrheit des Ichs, d.h. dieses individuelle Selbst, nicht mehr geahnt werden kann. Wie stark die Gefahr ist, dass das Selbst entflieht, zeigt sich, wenn die unterschiedliche Wertigkeit betrachtet wird, die den Worten Ahnen und Denken gewöhnlich beigemessen wird.
Die Formulierung, dass mein Ahnen <in seine Rechte kräftig eintreten> soll, lässt ahnungsweise die neue geistige Situation nach dem Himmelfahrts-Ereignis der letzten Woche anklingen. Hier sitzt Christus nach seinem Eintritt in den Himmel zur Rechten des Vaters (Markus 16,20). Die von Christus ausgehende gestaltende Macht, die den Weltenlauf von der göttlich gewollten Zukunft her lenkt, lässt sich nur erahnen. Das Denken ist dazu nicht in der Lage. Es kann nur das bereits Gewordene, aus der Vergangenheit Kommende erfassen.