17 Q

Es spricht das Weltenwort,

Das ich durch Sinnestore

In See­len­gründe durfte führen:

Erfülle deine Geistestiefen

Mit meinen Weltenweiten,

Zu find­en ein­stens mich in dir.

Was ist denn das “Weltenwort”?

Das Wel­tenwort ist der Logos. Die Lehre vom Logos, der alles durch­drin­gen­den Gottesver­nun­ft und dem daraus her­vortre­tenden schöpferischen Wel­tenwort, ist sehr alt. In der Weisheits­dich­tung des Rig-Veda heißt das schöpferische Wel­tenwort »vâk« (skrt., ver­wandt mit lat. vox, Stimme). In der Lehre des Zarathus­tra, dem Zen­dav­es­ta, heißt das Schöpfer­wort Hon­over (»ahu­na-vair­ja«), durch das die Welt erschaf­fen wird. In der Gen­e­sis, dem Schöp­fungs­bericht der Bibel, sind es die Elo­him, die durch ihr Sprechen die Welt im Sech­stage-Werk erschaf­fen. Im Johannes-Evan­geli­um wird das schöpferische Wel­tenwort im Chris­tus erkan­nt: “Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Her­rlichkeit, eine Her­rlichkeit als des einge­bore­nen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.” (Joh. 1,14 / Luth.).

Zugle­ich wird auch sowohl die Fähigkeit des Men­schen zu sprechen als auch zu denken auf diese Logoskraft zurück­ge­führt. Logos (griech. λόγος „Wort, Rede, Sinn“; lat. ver­bum) bedeutet somit ein­er­seits Wort, aus­ge­sproch­en­er Gedanke (griech. λόγος προφορικός logos prophorikos), ander­er­seits unaus­ge­sproch­en­er, rein inner­lich gefasster Gedanke (griech. λόγος ἐνδιάθετος logos endia­thetos), Begriff, Def­i­n­i­tion, Ver­nun­ft, göt­tlich­er, schöpferisch­er Gedanke, Weltgedanke, Weltver­nun­ft, Welt­geist (lat. mens mun­di), Wel­tenwort. Die Stoik­er nen­nen es den logos sper­matikos (griech. λόγος σπερματικός „Ver­nun­ftkeim“), der jedem ver­nun­ft­be­gabten Wesen innewohnt. Es ist der göt­tliche Funken, der in jedem Men­schen wohnt. Dadurch sind wir alle Söhne und Töchter der allum­fassenden Schöpfermacht.

Die Lage der beiden Weltenwort-Sprüche im Seelenkalender-Jahreskreis

Zwei Mantren han­deln im See­lenkalen­der expliz­it vom Wel­tenwort. Das sind die Sprüche 17 Q und 36 k. Sie zeigen im gram­ma­tis­chen Auf­bau Par­al­le­len, wodurch sie als Spiegel­sprüche zu erken­nen sind. Erstaunlicher­weise liegen bei­de Mantren dort, wo das auf dem Arm getra­gene Kind der im Jahreskreis erscheinen­den Maria zu erwarten ist. In vie­len Kirchen ist ihr Bild zu find­en: die Maria auf der Mond­sichel im Strahlenkranz mit ein­er Kro­ne auf dem Haupt.

Diese Marien­imag­i­na­tion erscheint im Jahreskreis, wenn die zu Ostern gehören­den Wochen (Oster­scholle) als Mond­sichel betra­chtet wer­den. Darüber erscheint die Sonne, gebildet aus den vom Mit­telpunkt aus­ge­hen­den Wochenseg­menten. Da die Oster­scholle dem Jahr eine Drit­telung ein­prägt, die auch geschichtet gedacht wer­den kann, ist oben der Bere­ich ihrer Kro­ne. Ich stelle ihn als Stern­bere­ich dar, weil das Vor­bild dieser Marien­darstel­lung das Weib der Apoka­lypse ist:

„Und es erschien ein groß Zeichen im Him­mel: ein Weib, mit der Sonne bek­lei­det, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Kro­ne von zwölf Ster­nen.“ (Offenb. 12.1)

In der Apoka­lypse heißt es, dass sie im Begriff ist zu gebären, doch die Marien auf der Mond­sichel tra­gen zumeist ihr Kind auf dem Arm – mal rechts und mal links. So sind die Wel­tenwort-Mantren für mich eine Bestä­ti­gung dieser Marienof­fen­barung im Jahreslauf.

Der See­lenkalen­der-Jahreskreis mit seinen drei übere­inan­der liegen­den Bere­ichen: dem Mon­den­bere­ich der Osterzeit, dem Son­nen­bere­ich und dem Stern­bere­ich – und die Weltenwort-Sprüche

Die Maria auf der Mond­sichel stilisiert

Die Zeich­nung der Maria auf der Mond­sichel ist mein­er Lieblings­madon­na nachemp­fun­den. Das auf dem Kunst­werk notierte Jahr 1693 doku­men­tiert das Jahr der Stiftung an das Kloster, nicht das Entstehungsjahr

Madon­na auf der Mond­sichel im Strahlenkranz, St. Johan­niskloster vor Schleswig

Und wie lernt man das Weltenwort zu verstehen — die geheime Schrift zu lesen?

Das “Hören” und “Ver­ste­hen” des in der Schöp­fung aus­ge­bre­it­eten Wel­tenwortes wird “das Lesen der okkul­ten Schrift” genan­nt. Rudolf Stein­er beschreibt diese Stufe auf dem Ein­wei­hungsweg fol­gen­der­maßen: “Die dritte Stufe [auf dem sieben­stu­fi­gen Rosenkreuzer-Ein­wei­hungsweg A.F.] ist das Lesen der okkul­ten Schrift, das heißt, nicht nur einzelne Bilder sehen, son­dern das Ver­hält­nis dieser ver­schiede­nen Bilder auf sich wirken lassen. Das wird zu dem, was man okkulte Schrift nen­nt. Man begin­nt die Kraftlin­ien, die schöpferisch durch die Welt gehen, durch die Imag­i­na­tion zu gewis­sen Fig­uren und Far­bengestal­tun­gen zu ord­nen. Man lernt einen inneren Zusam­men­hang, der in jenen Fig­uren aus­ge­drückt ist, empfind­en: das wirkt als der geistige Ton, als die Sphären­har­monie, denn jene Fig­uren sind den wahren Weltver­hält­nis­sen nachge­bildet. Unsere Schrift ist ein let­zter dekaden­ter Rest dieser alten okkul­ten Schrift und ihr nachge­bildet.” (Lit.: GA 99, S. 162)

An ander­er Stelle gibt Rudolf Stein­er eine sehr aus­führliche Beschrei­bung, wie dieses Lesen geübt wer­den kann: „Sie führt ihn zuerst in die Innen­welt, deren Zugang sie ihm öffnet durch die Außen­welt hin­durch, welche der Schüler in allen ihren For­men treu zu beobacht­en hat. Über­all muss er das Sym­bol­is­che her­aus­find­en ler­nen, bis dass er ein­sieht, dass die ganze physis­che Welt ein Gle­ich­nis ist. Hier­mit sei nicht gesagt, dass der Botaniker, Lyrik­er oder Maler falsch sehen, auch sie sehen richtig, doch bei dem Rosenkreuzer­schüler kommt es darauf an, dass er seine Aufmerk­samkeit auf das Sym­bol­is­che der Form richtet, da sein Zweck tiefer liegt als der­jenige der anderen Beobachter.

Sieht er zum Beispiel eine Rose, so erken­nt er in ihr ein Sinnbild des Lebens und sagt sich: Klar­er grün­er Saft steigt im Sten­gel empor, fließt von Blatt zu Blatt, doch oben, in der die Pflanze krö­nen­den Blüte, trans­formiert er sich in den roten Saft der Rose. – Dann wen­det er den Blick von der Blume ab und sieht auf den Men­schen und sagt sich: Betra­chte ich die Pflanze neben dem Men­schen, so erscheint sie mir auf den ersten Blick als viel tiefer­ste­hend als er, sie hat wed­er Bewe­gung noch Gefüh­le noch Bewusst­sein. Auch der Men­sch ist vom roten Nährsafte durch­strömt, doch er bewegt sich frei, wohin er will, er sieht die Außen­welt und empfind­et ihre Ein­drücke als Lust und Leid und ist sich sein­er Exis­tenz bewusst. Eines jedoch hat die Pflanze voraus: Sie kann nicht irren wie er; keusch und rein, nie­man­dem Bös­es zufü­gend, lebt sie dahin. Das rote Blut ist der Aus­druck höher­er Geistigkeit und ste­ht über dem grü­nen Pflanzen­saft, der oben in der Blüte sym­bol­isch rot gefärbt ist, doch das Blut ist zugle­ich der Träger von Begier­den, von Lei­den­schaften, von Irrtum und Fehlern. Die Rose ist wohl ein unter­ge­ord­netes Wesen, aber sie ist wie ein Ide­al für den Men­schen. Einst wird er Herr wer­den sein­er selb­st, und sein Ich wird sich erheben über das All­t­ags-Ich. Er wird sich vere­deln, läutern, und sein Blut wird keuch und rein wer­den wie der grüne Pflanzen­saft. Und dieses geläuterte Blut des vergeistigten Men­schen sehe ich im roten Rosen­blute versinnbildlicht.

Das Niedere in uns muss in unsere Gewalt kom­men, wir müssen Herr wer­den alles dessen, was sich unserem Auf­stiege ent­ge­genset­zt und es trans­formieren in reine Kräfte. Im Sym­bol des Rosenkreuzes, dem toten, schwarzen Kreuzesholz, auf dem die leben­den Rosen erblühen, sehen wir uns selb­st. Das fin­stere Holz ist unsere niedere Natur, welche dem Tode ver­fällt und über­wun­den wer­den muss, die roten Rosen sind unsere höhere, dem Leben gewei­hte Natur, die siegre­ich aus dem ster­ben­den Unlauteren emporsprießt.

Solche Sym­bole soll der Rosenkreuzer mit aller Macht auf sich ein­wirken lassen; über­all in der Natur ring­sum soll er sie suchen, sie sich bilden und über sie medi­tieren. Bei dieser Vorstel­lung kommt es weniger auf das Wahre als auf das Richtige, das sym­bol­isch Richtige an. Beson­ders bei der Med­i­ta­tion des Rosenkreuzes soll die ganze Empfind­ung, das ganze Herzblut mitein­be­zo­gen wer­den, es soll uns durch­leben und durchglühen vor dem Bilde der Trans­for­ma­tion unser­er Natur. Bis zu solch ein­er Stärke hat der Schüler den Ein­druck zu steigern und dann stets zu wieder­holen, so dass er nicht mehr aus ihm schwindet und abends von seinem Astralleib mit hinübergenom­men wird in die geistige Welt. Der Rosenkreuzer­schüler fühlt dann, wie die Bewusst­losigkeit, in die er früher während des Schlafes fiel, allmäh­lich schwindet, es ist ihm, wie wenn ein langsames See­len­feuer sich in ihm entzün­dete. Wie eine Leuchte trägt er es in sich, welche in das Dunkel der Nacht hine­in­strahlt und ihm sicht­bar macht, was bish­er die Fin­ster­n­is ver­hüllte. Er ist sehend gewor­den im Jen­seits. Ein licht­spenden­des, aktives Auge hat sich in ihm erschlossen im Gegen­satz zum physis­chen, pas­siv­en Auge, welch­es keinen Lichtquell in sich hat, son­dern nur mit frem­dem Lichte wahrnimmt.

Der Rosenkreuzer sieht, wenn er sich so eingeschult hat, die äußere Real­ität nur da, wo er sie zu Sym­bol­en gestal­ten kann, die sein Inneres in Fähigkeit­en ver­set­zen und zu Licht umwan­deln, was er sich an Med­i­ta­tions­fähigkeit­en erwor­ben hat.

Auf diese Art ist das Ich des Schülers geschützt vor der Ver­här­tung im Ego­is­mus, eben­so wie vor der Ohn­macht, und er dringt ohne Gefahr in die höheren Wel­ten ein. In richtigem Maße eignet er sich die Stärke der Mys­tik an und ver­wen­det sie in der Ekstase. Bei ern­ster Übung kommt er schließlich so weit, dass er die Sonne um Mit­ter­nacht schaut, wie man es in den alten okkul­ten Schulen nan­nte, das heißt, er sieht hin­ter der physis­chen Form gle­ichzeit­ig den Geist“ (Rudolf Stein­er, GA 118, Vor­trag vom 12.4.1910, S. 212 — 214).

Zwei Weisheitssprüche zur Einstimmung

„Jede Idee, die dir nicht zum Ide­al wird, ertötet in dein­er Seele eine Kraft.

            Jede Idee, die aber zum Ide­al wird, erschafft in dir Lebenskräfte.“

(Rudolf Stein­er)

  „Der Men­sch ken­nt nur sich selb­st, insofern er die Welt kennt,

            die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.

            Jed­er neue Gegen­stand wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.”

(J.W. v. Goethe)

Was sagt mir das Mantra 17 Q?

Im Mantra17 Q spricht das Wel­tenwort! Die göt­tliche Schöpfer­ma­cht spricht zu mir, dem Ich im Mantra und damit auch zu mir als Leser! Das Wel­tenwort ist bere­its einge­zo­gen in mich. Es spricht aus meinen See­len­grün­den, von innen her­aus. Ich durfte es in mich aufnehmen durch die Tore mein­er Sinne. Ist mir das eigentlich bewusst, dass ich mit jed­er Wahrnehmung das göt­tliche Schöpfer­wort in mich aufnehme? Die ganze physis­che Welt wird, wie oben beschrieben, seit alters her aus dem göt­tlichen Wort ent­standen gedacht. Deshalb kann ich eigentlich gar nicht anders, als fortwährend das Wel­tenwort durch meine Sinne in mich aufzunehmen.

Doch so ein­fach, so automa­tisch geschieht es wohl nicht. Ich darf das Wel­tenwort durch meine Sinnestore in See­len­gründe führen. Ich bin dazu berechtigt — doch habe ich es auch getan? Habe ich meine Sinne so hinge­bungsvoll betätigt, wie es mir möglich war? Habe ich mit allen Sin­nen gehorcht auf das Wel­tenwort? Oder bin ich acht­los an vie­len Blu­men, dem Vogelge­sang oder der Not eines Mit­men­schen vor­bei gegan­gen? War ich in so große Sin­nes­dumpfheit gehüllt (Mantra 15 O), dass mir die Kraft fehlte, die Heiligkeit jed­er Wahrnehmung zu bemerken? Die Frage ist: höre ich das göt­tliche Wort auch in mir? Höre ich sein Sprechen, oder sind es nur immer meine Gedanken, die in mir kreisen? Ist in mir nur Geräusch und Lärm? Und wenn ich es höre, ist es mir noch dazu möglich, das Schöpfer­wort auch zu ver­ste­hen? Höre ich die Zukun­ft, wie sie sich in mir vorbereitet?

Sowohl im Mantra 16 P als auch im Mantra 17 Q wer­den die See­len­gründe als ein Ort des Geschehens genan­nt. Im Mantra 16 P soll­ten reifende Gottes­gaben in See­len­grün­den fruch­t­end der Selb­s­theit Früchte brin­gen — ein ganz pflanzen­haftes Geschehen, das sich im Unter­be­wusst­sein vol­lzieht. Hier im Mantra 17 Q ist es das Wel­tenwort, das ich durch Sinnestore in See­len­gründe führen durfte — ein Prozess, der mit der Wahrnehmung und deshalb im Bewusst­sein startet und trotz­dem in sein­er Größe schw­er zu erfassen ist.

Wie führe ich also das Wel­tenwort durch Sinnestore in See­len­gründe? Das in allem Geschaf­fe­nen enthal­tene schöpferische Prinzip, die schöpferische Inten­tion des Schöpfers nehme ich mit jed­er Wahrnehmung in mich auf — und dadurch dieses göt­tliche Wesen sel­ber, den göt­tlichen Sohn, den Chris­tus. Ich säe das Wel­tenwort wie einen Samen in meine See­len­gründe, in meine frucht­bare, dun­kle Tiefe der Seele, in meinen See­len­schoß — mein tief­stes Unter­be­wusst­sein. Das Wel­tenwort spricht, aber der Chris­tus ist für mich noch kein sicht­bares Gegenüber. Das Wel­tenwort sagt mir, dass ich es (den Chris­tus) erst einst, also erst in Zukun­ft, sel­ber in mir find­en werde. Um dies vorzu­bere­it­en, gibt mir das Wel­tenwort einen Auf­trag. Ich erhalte eine Anweisung: ich soll meine Geis­testiefen mit seinen Wel­tenweit­en erfüllen.

Was ist damit gemeint? Um welchen Prozess geht es hier? Zunächst eine Bedeu­tungsklärung von See­len­grün­den und Geis­testiefen: bei­de Orte liegen tief unten, am Grund. Doch han­delt es sich das eine Mal um den Grund der Seele, das andere Mal um die Tiefe des Geistes. In den See­len­grün­den wogen tief im Unter­be­wusst­sein die Emo­tio­nen, Begier­den und instink­thaften Antriebe des Men­schen. Hier wird jed­er ein­tr­e­f­fende Sin­nes­reiz als angenehm oder unan­genehm bew­ertet, zumeist ohne dass diese Bew­er­tung bewusst wahrgenom­men wird. In diese See­len­gründe durfte ich das Wel­tenwort durch die Tore mein­er Sinne führen. Die See­len­gründe, das Unter­be­wusst­sein sam­meln die Erleb­nisse des gegen­wär­ti­gen Lebens und auch die Bew­er­tun­gen. Die bew­er­tende Instanz in mir ist der Geist. Die unbe­wusst getrof­fe­nen Entschei­dun­gen beruhen in der Regel auf gewohn­heitsmäßi­gen Urteilen. Diese Urteile wer­den getrof­fen, noch bevor in Ruhe wahrgenom­men wurde, weshalb es sich eigentlich um Vorurteile han­delt. Diese muss der Men­sch ler­nen zu unterlassen.

“Der Ler­nende muß die Eigen­schaft in sich entwick­eln, sich den Din­gen und Men­schen gegenüber in deren Eige­nart zu ver­hal­ten, ein jeglich­es in seinem Werte, in sein­er Bedeu­tung gel­ten zu lassen. Sym­pa­thie und Antipathie, Lust und Unlust müssen ganz neue Rollen erhal­ten. Es kann nicht davon die Rede sein, daß der Men­sch diese aus­rot­ten soll, sich stumpf gegenüber Sym­pa­thie und Antipathie machen soll. Im Gegen­teil, je mehr er in sich die Fähigkeit aus­bildet, nicht alsogle­ich auf jede Sym­pa­thie und Antipathie ein Urteil, eine Hand­lung fol­gen zu lassen, eine um so feinere Empfind­ungs­fähigkeit wird er in sich aus­bilden. Er wird erfahren, daß Sym­pa­thien und Antipathien eine höhere Art annehmen, wenn er diejenige Art in sich zügelt, die schon in ihm ist. Ver­bor­gene Eigen­schaften hat selb­st das zunächst unsym­pa­this­chste Ding; es offen­bart sie, wenn der Men­sch in seinem Ver­hal­ten nicht seinen eigen­süchti­gen Empfind­un­gen fol­gt. Wer sich in dieser Rich­tung aus­ge­bildet hat, der empfind­et fein­er nach allen Seit­en hin als andere, weil er sich nicht von sich selb­st zur Unempfänglichkeit ver­führen läßt.” (Lit.: GA 9, S. 82)

Das ist das Lern­feld der drit­ten Nebenübung, die Entwick­lung der Gelassen­heit. „Bei der drit­ten Nebenübung, dem Aus­gle­ich zwis­chen Freud und Leid, sollen wir uns ganz hine­in­find­en und hine­in­fü­gen in alles Geschehen. Dann wird sich allmäh­lich unser Äther­leib aus­dehnen bis in die Him­mel­sweit­en hinein. Wir wer­den uns dann nicht mehr in unserem Kör­p­er drin­nen fühlen und die ganze Welt um uns herum, son­dern wir fühlen unseren Kör­p­er in den ganzen Umkreis aus­ge­bre­it­et; aus­geweit­et und hinein­er­gossen fühlen wir uns in die geisti­gen Wel­ten. Man erfühlt, man «erweiß» sich in der geisti­gen Welt.“ (Lit.: GA 266c, S. 258)

Durch die Entwick­lung von Gle­ich­mut weit­en sich Seele und Geist und es entste­ht inner­er Raum, neue Per­spek­tiv­en einzunehmen. Dies ist sicher­lich eine Voraus­set­zung, um das Wel­tenwort einst in sich zu finden.

Das Mantra unter­schei­det See­len­gründe und Geis­testiefen als Orte des Geschehens. Was kön­nte mit den Geis­testiefen über das schon Aus­ge­führte hin­aus­ge­hend gemeint sein? Die Geis­testiefen gehören zum Geist, zum unsterblichen Teil des Men­schen. In den Geis­testiefen ruhen die ver­bor­gend­sten Geheimnisse des Geistes. Es sind z.B. die tief im Unter­be­wusst­sein wirk­enden karmis­chen Geset­ze, die regeln, wie das irdis­che Men­schen­leben mit der Geist­welt zusam­men­hängt. Sie begrün­den die Notwendigkeit ein­er neuen Inkar­na­tion und dadurch das Leben aus dem Tod neu entste­hen zu lassen. Diese Geis­testiefen soll ich erfüllen mit den Wel­tenweit­en des Wel­tenwortes — dazu fordert das Wel­tenwort auf.

Das Wel­tenwort fordert meine Aktiv­ität. Der Schritt, der nötig ist, passiert nicht von alleine. Die Wel­tenweit­en, mit denen ich meine Geis­testiefen erfüllen soll, gehören zum Wel­tenwort. Sie sind Teil von ihm. Das Wel­tenwort ist groß wie die weite Welt, denn es hat die Welt, wie oben dargestellt, her­vorge­bracht. Diese Größe und wel­tumspan­nende Majestät soll in mich einziehen. Die Schöp­fungskeime von allem, was es in der Welt gibt, sollen Raum haben in meinem Geist. Alle wieder­streben­den und sich gegen­seit­ig im Gle­ichgewicht hal­tenden Kräfte und Organ­is­men sollen Platz find­en in meinen Geis­testiefen. Das Wel­tenwort fordert mich auf, meinen Geist in den Tiefen, in den Wurzeln, den Keim­punk­ten geistiger Prozesse zu weit­en, so dass diese gewaltige Größe entste­ht, in der die ganze Welt Platz hat.

Die bei­den W‑Laute in Wel­tenweit­en lassen unmit­tel­bar den Wind spüren, der über die weite Ebene mein­er Geis­testiefen weht. Die Wel­tenweit­en des Wel­tenwortes, des Logos, sind seine uner­schöpfliche Kreativ­ität der Gestal­tung und Umgestal­tung, sind die Vielfalt an Lebe­we­sen, die in stetiger Entwick­lung begrif­f­en sind und sind auch seine unver­siegliche Leben­skraft, die sich in die unendlich vie­len einzel­nen Wesen auf diesem Plan­eten ergießt: sie bein­hal­ten neben der Macht von Ideen, und neben den Fak­ten auch die Kräfte der Wirk­samkeit, des Tuns im Materiellen.

Meinen Geist weit­en Unvor­ein­genom­men­heit, Staunen, Verehrung, Dankbarkeit, bedin­gungslose Liebe, Hingabe, um nur einige zu nen­nen. Immer kommt es darauf an, die Urteile, die gewohn­heitsmäßig gefällt wer­den, zurück­zuhal­ten. Aus eigen­er Erfahrung kann ich sagen, es muss aus­ge­hal­ten wer­den, kein Urteil zu fällen, es nicht ver­meintlich im Vorhinein zu wis­sen, “was” wahrgenom­men wurde. Die Wahrnehmung muss Zeit haben, einzusinken, in mir zu wohnen, ohne dass der Prozess durch ein Urteil abgeschlossen wird. Ich nenne das “auf ein­er Frage zu brüten”, das heißt, geduldig zu warten und sie in mir zu bewegen.

Am Beispiel unser­er Laut­bil­dung möchte ich dies verdeut­lichen. Hier sind wir die Schöpfer der Klanggestalt der Rede. Jed­er Sprach-Laut erfordert eine andere Art der Luft­führung, mal mit Stim­mein­satz, mal ohne. Jede inko­r­rek­te Bil­dung wird sofort hör­bar. Die Laut­bil­dung fol­gt stren­gen Geset­zen. Gelingt es mir, jede einzelne Laut­bil­dung als ein eigenes Schöp­fung­sprinzip zu erken­nen? Kön­nen die Laute mir Bild wer­den für die Schöpfer­kraft des Logos, des Weltenwortes?

Meine Geis­testiefen zu erfüllen mit den Wel­tenweit­en heißt, die Wahrnehmung zur Med­i­ta­tion zu ver­tiefen, sie in mir hallen, in mir klin­gen, zu mir sprechen lassen. Nur die Wahrnehmung darf in mir sprechen. Ich sel­ber muss still, wie bewusst schlafend und ohne eige­nen Willen sein — Leere in mir erzeu­gen. Dann füllt mich jede Wahrnehmung aus und wird gewaltig „laut“. Dann kann sie mich erre­ichen, dann entste­ht eine ganz neue Beziehung zum Wahrgenomme­nen. Dann kann es sein, dass die Wahrnehmung zu mir „spricht“.

Es heißt, dass ich ein­stens das Wel­tenwort in mir finde — also lange nach­dem ich es durch die Sinnestore in meine Seele aufgenom­men habe. Ich werde es also im Rück­blick als eine Erin­nerung in mir find­en, und diese Erin­nerung ist selb­st die wirk­same Macht. Ein Wider­spruch? Nein. Die Erin­nerungs­fähigkeit ermöglicht es, dass ich weiß, wer ich bin. Sie ermöglicht mir das durchge­hende Iden­titäts­ge­fühl, die eigene Biogra­phie. Sie schenkt mir das Ich-Bewusst­sein, dass die Zeit­en des Schlafs, der Unbe­wuss­theit überspan­nt, sodass ich naht­los an die Ver­gan­gen­heit anknüpfen kann und nicht das Gefühl habe, jede Nacht aus­gelöscht zu wer­den. Von Rudolf Stein­er gibt es tat­säch­lich zwei Vari­anten des oben zitierten Pro­logs im Johan­ne­se­van­geli­um, die statt vom “Wort” von der “Erin­nerung” sprechen.

Im Mantra 19 S gehe ich aus­führlich­er darauf ein. Hier nur die eine Vari­ante von Rudolf Steiner:

“Im Urbe­ginne war die Kraft der Erinnerung.

Die Kraft der Erin­nerung soll wer­den göttlich,

Und ein göt­tlich­es soll wer­den die Kraft der Erinnerung.

Alles was im Ich entsteht,

Soll wer­den so,

Dass es ein Ent­standenes ist

Aus der durchchristlicht­en, durchgöt­tlicht­en Erinnerung.”

(GA 152, 7.3.1914)

Das Wel­tenwort soll ich einst, also in der Zukun­ft, in mir vorfind­en. Ich soll das, was schon jet­zt in mir ist, find­en, und damit erken­nen kön­nen. Die Schöpfer­kraft, die in mir wirkt, soll ich bewusst erken­nen. In diesem Mantra wird der im Ver­bor­ge­nen sich vol­lziehende Einzug des makrokos­mis­chen Wel­tenwortes in die Seele geschildert, damit das Wel­tenwort mikrokos­misch in ihr geboren wer­den kann. Hier erfahre ich, wie ich mir die Geist-Augen bilde, um dere­inst das Wel­tenwort, den Chris­tus, in mir zu find­en, ihn in mir zu erken­nen und voll­be­wusst sagen zu kön­nen: “Chris­tus in mir”.