19 S

Geheimnisvoll das Neu-Empfang´ne

Mit der Erinn´rung zu umschließen,

Sei meines Strebens weitr­er Sinn:

Es soll erstark­end Eigenkräfte

In meinem Innern wecken

Und wer­dend mich mir sel­ber geben.

Über den Prozess der Erinnerungsbildung

Im Zen­trum des Mantras 19 S ste­ht die Erin­nerung. Für Rudolf Stein­er bedeutet Erin­nerung viel mehr, als unser alltäglich­es Ver­ständ­nis bein­hal­tet. Rudolf Stein­er betont, dass die Vorstel­lung, die ich mir an der Wahrnehmung bilde, nicht ein­fach im Unter­be­wusst­sein versinkt und als Erin­nerung wieder auf­steigt oder her­vorge­holt wird. Der Vor­gang der Erin­nerungs­bil­dung ist kom­plex­er. Er bedeutet jedes Mal eine Neuschöp­fung. Damit diese möglich wird, muss die im Astralleib durch das Erleben gebildete Vorstel­lung dem Äther­leib eingeprägt wer­den. Dies geschieht vor allem während des Schlafs. Diese Form-Abdrücke gle­ichen nicht dem Vorstel­lungsin­halt, son­dern sind kleine Men­schen­bilder (mehr dazu im vor­let­zten Kapi­tel „1. Ergänzung: „Ein Gedanke zur Men­schen­form des Abdrucks“). Sie trans­portieren nur den Inhalt, so wie die Buch­staben beim Lesen, gelan­gen aber sel­ber nicht ins Bewusst­sein. Sie sind, wie Rudolf Stein­er aus­führt, nur der hell­sichti­gen Beobach­tung erkennbar.

„Das heutige Bild gibt mir die Wahrnehmung, das heißt meine Sin­nesor­gan­i­sa­tion. Wer aber zaubert das gestrige in meine Seele here­in? Es ist das­selbe Wesen in mir, das gestern bei meinem Erleb­nis dabei war und das auch bei dem heuti­gen dabei ist. Seele ist es in den vorherge­hen­den Aus­führun­gen genan­nt wor­den. Ohne diese treue Bewahrerin des Ver­gan­genen wäre jed­er äußere Ein­druck für den Men­schen immer wieder neu. Gewiß ist, daß die Seele den Vor­gang, durch welchen etwas Erin­nerung wird, dem Leibe wie durch ein Zeichen ein­prägt; doch muß eben die Seele diese Ein­prä­gung machen und dann ihre eigene Ein­prä­gung wahrnehmen, wie sie etwas Äußeres wahrn­immt. So ist sie die Bewahrerin der Erin­nerung.“ (Lit.: GA 9, S. 65f)

„Stellen wir die Frage: Warum haben wir ein Gedächt­nis im physis­chen Leben? — da müssen wir sagen: Jedes­mal, wenn wir eine Vorstel­lung bilden, wird ein Ein­druck auf den physis­chen Leib gemacht. Dieser Ein­druck ist sog­ar mehr oder weniger men­schenähn­lich. Jede Vorstel­lung, die wir uns bilden, macht nicht nur, wie der mate­ri­al­is­tisch-phan­tastisch Denk­ende meint, da oder dort im Gehirn einen Ein­druck, son­dern auf den ganzen Men­schen macht jede Vorstel­lung einen Ein­druck. Und mit Bezug auf eine Art Nach­for­mung des Kopfes und noch sog­ar des oberen Teiles der Brust des Men­schen, liefert wirk­lich jede Vorstel­lung, die wir uns bilden, einen Abdruck. … Diese Men­schen­bilder sind mehr oder weniger gle­ich in ihrer äußeren Gestalt, aber doch wiederum ungle­ich; keines ist dem andern voll­ständig gle­ich. Jedes ist von dem andern ver­schieden, wenn auch eben nur etwas ver­schieden. Es ist eine kindliche Vorstel­lung, wenn etwa jemand glauben wollte, daß, wenn er jet­zt einen Ein­druck der Außen­weit hat und sich mor­gen daran erin­nert, dieser Ein­druck in irgen­dein­er Form in ihm gesessen habe. Er hat gar nicht gesessen, son­dern ein Bild, das men­schenähn­lich ist, ist in dem Men­schen geblieben. … Und wenn Sie sich mor­gen wieder an den Ein­druck erin­nern, dann ver­set­zen Sie Ihre Seele in dieses Men­schen­bild, das in Ihnen ist. Und der Grund, warum Sie mor­gen nicht dieses Men­schen­bild sehen, son­dern sich an den Ein­druck erin­nern, ist der, daß Sie in Ihrem Astralleib lesen. Es ist eine richtige Lesetätigkeit, eine unter­be­wußte Lesetätigkeit; ger­adeso wie wenn Sie irgend etwas auf­schreiben und später lesen wollen, Sie nicht die Buch­staben beschreiben, son­dern das, was die Buch­staben bedeuten, so ist es mor­gen, wenn Sie sich an das heute Erlebte erin­nern. Sie schauen nicht das Bild an, das in Ihnen ent­standen ist, das Men­schen­phan­tom, das da in Ihnen lebt, son­dern Sie deuten es. Sie ver­set­zen sich in der Seele in dieses Men­schen­phan­tom, und Ihre Seele erlebt etwas ganz anderes als dieses Men­schen­phan­tom. Sie erlebt das­jenige, was sie gestern erlebt hat, noch ein­mal.“ (Lit.: GA 159, S. 351f)

Ohne Erin­nerungs­fähigkeit geht dem Men­schen der Zusam­men­hang sein­er Biogra­phie und damit das Bewusst­sein der eige­nen Indi­vid­u­al­ität ver­loren. Die Rolle des Ichs im Erin­nerungs­geschehen ist eine zweifache: Durch seine Kraft ist es sowohl Ini­tia­tor der Erin­nerungs­bil­dung, indem es die Gedanken lenkt und die Vorstel­lun­gen bildet, die im Äther­leib abge­drückt wer­den, als auch die Instanz, die die Erin­nerungs­bilder wieder wachruft. Ganz leise tönt in diesem Prozess ein Aufer­ste­hungs­geschehen an.

„Das Wesen der Erin­nerung ist, daß der Men­sch etwas, was er durch das Werkzeug seines physis­chen Leibes wahrgenom­men hat, als Bild im Innern wiederum aufrufen kann in sich selb­st durch seine eigene Ich-Kraft, so daß er nicht den physis­chen Leib dazu braucht, son­dern aus dem Meer des ätherischen Leibes her­aus sich ein Bild schafft dessen, was er vorher durch den physis­chen Leib wahrgenom­men hat. Aus dem Äther­meer geformt ist das Bild, das zu ein­er neu wachgerufe­nen Vorstel­lung wird.“ (Lit.: GA 266b, S. 480f)

Über die Christuskraft in der Erinnerung

Heute ist Erin­nerung noch ganz indi­vidu­ell per­sön­lich. Doch das soll sich in ferner­er Zukun­ft ändern, wie Rudolf Stein­er ankündigt. Die indi­vidu­elle Erin­nerung wird mit der selb­st­los-sozialen Chris­tus-Kraft durch­drun­gen wer­den: “Hineinzuleit­en diesen Chris­tus-Impuls in das aufrechte Gehen, in Sprechen und Denken, das ist durch das­jenige möglich, was seit Jahrtausenden für die Men­schen da ist mit der Men­schheit­skul­tur. In ein viertes Ele­ment hineinzuleit­en den Chris­tus-Impuls, vorzu­bere­it­en dieses Hinein­leit­en in ein viertes men­schlich­es Ver­mö­gen, daran müssen wir auch denken, wenn wir uns im recht­en Sinn auf den Boden der Geis­teswis­senschaft stellen. Daran müssen wir auch denken! Wo hinein der Chris­tus- Impuls noch nicht geleit­et wer­den kann, wo hinein­geleit­et zu wer­den er sich aber vor­bere­it­et, das ist die men­schliche Erin­nerung, das Erin­nern des Men­schen. Denn außer dem Aufrecht­ge­hen und ‑ste­hen, dem Reden oder Sprechen, dem Denken, tritt jet­zt die Chris­tus-Kraft in das Erin­nern ein. Wir kön­nen ver­ste­hen den Chris­tus, wenn er durch die Evan­gelien zu uns spricht. Aber wir wer­den als Men­schen erst dazu vor­bere­it­et, daß der Chris­tus auch ein­tritt in die Gedanken, die dann als erin­nerte Gedanken und Vorstel­lun­gen in uns leben und sind und so weit­er in uns leben. Und eine Zeit wird her­ankom­men für die Men­schheit, die allerd­ings erst voll­ständig wer­den wird in der sech­sten größeren Peri­ode der Men­schheit­sen­twick­elung, aber jet­zt sich vor­bere­it­et, wo die Men­schen hin­se­hen wer­den auf das, was sie erlebt und erfahren haben und was als Erin­nerung in ihnen lebt, und wer­den sehen kön­nen, daß in der Kraft des Erin­nerns der Chris­tus mitlebt. Durch jede Vorstel­lung wird der Chris­tus sprechen kön­nen. Und auch wenn wir unsere Vorstel­lun­gen in der Erin­nerung wieder­beleben, so wird in der Erin­nerung, in dem, was so eng, so intim mit uns ver­bun­den ist wie unsere Erin­nerung, der Chris­tus mit ver­bun­den sein. Zurück­blick­en wird der Men­sch kön­nen auf sein Leben und sagen wird er sich: So wie ich mich erin­nere, so wie die Kraft des Gedächt­niss­es in mir lebt, so lebt in diesem Gedächt­nis der hineingegossene Chris­tus- Impuls. Der Weg, der den Men­schen geboten wird, immer mehr und mehr wahr zu machen die Worte: Nicht ich, der Chris­tus in mir, — der Weg wird dadurch geeb­net, daß in die Erin­nerungskraft allmäh­lich der Chris­tus-Impuls einziehen wird. Er ist jet­zt noch nicht darin­nen. Wenn er darin­nen sein wird, wenn nicht nur im Ver­ständ­nis des Men­schen der Chris­tus-Impuls lebt, son­dern wenn der Chris­tus-Impuls sich über den ganzen Saum, über den ganzen Streifen von Erin­nerun­gen aus­gießen wird, dann wird der Men­sch zum Beispiel nicht nur angewiesen sein darauf, aus äußeren Doku­menten Geschichte zu ler­nen, denn dann wird sich seine Erin­nerungskraft erweit­ern. Der Chris­tus wird in dieser Erin­nerung leben. Und der Men­sch wird dadurch, daß der Chris­tus in seine Erin­nerungskraft einge­zo­gen ist, dadurch, daß der Chris­tus in der Erin­nerungskraft lebt, der Men­sch wird dadurch wis­sen, wie bis zum Mys­teri­um von Gol­gatha hin der Chris­tus außerirdisch gewirkt hat, wie er es vor­bere­it­et hat und durchge­gan­gen ist durch dieses Mys­teri­um von Gol­gatha, und wie er als Impuls weit­er­wirkt in der Geschichte. So wahr und wirk­lich wird der Men­sch das über­schauen, wie jet­zt im gewöhn­lichen Leben die Erin­nerung da ist. Man wird die irdis­che Entwick­elung der Men­schheit nicht anders über­schauen kön­nen inner­lich als so, daß man dann den Chris­tus-Impuls im Mit­telpunkt erblickt. Alle Erin­nerungskraft wird durch­set­zt und zugle­ich ver­stärkt wer­den durch das Ein­drin­gen des Chris­tus-Impuls­es in die Gedächt­niskraft, in die Erin­nerungskraft.” (Lit.: GA 152, S. 115f)

Denken und Erinnerung in den vier Varianten des Prologs im Johannesevangelium

Rudolf Stein­er hat zum Pro­log des Johan­ne­se­van­geli­ums (Joh. 1,1–18) vier Vari­anten geschrieben. Zwei stellen die Erin­nerung ins Zen­trum, zwei andere den Gedanken (Rudolf Stein­er, GA 152, 7.3.1914, Zitat siehe unten): Diese Über­set­zun­gen sind so frei, dass sie ein­er Neuschöp­fung nahekom­men. Sie stellen für mich vier Per­spek­tiv­en auf das in sein­er Tiefe unaussprech­liche Schöp­fungs­ge­heim­nis dar.

Indem zweimal der Gedanke im Zen­trum ste­ht und zweimal die Erin­nerung, beste­ht für mich ein Zusam­men­hang mit den Viertel­jahren im See­lenkalen­der. Die von mir vorgenommene Zuord­nung möchte ich fol­gen­der Maßen begrün­den: Im Vor­wort zur ersten Aus­gabe des See­lenkalen­ders 1912/13 wird die Beziehung des Jahres­laufes zur men­schlichen Seele von Rudolf Stein­er so charak­ter­isiert: “Es kann vielmehr fühlen der Men­sch sein an die Sinne und ihre Wahrnehmungen hingegebenes Wesen als entsprechend der licht- und wärme-durch­wobe­nen Som­mer­natur. Das Gegrün­det­sein in sich sel­ber und das Leben in der eige­nen Gedanken- und Wil­lenswelt kann er empfind­en als Win­ter­da­sein.” Das Som­mer-Hal­b­jahr ste­ht also für die Wahrnehmung, das Win­ter-Hal­b­jahr für das Denken. Erin­nern ist ein inneres Wahrnehmen, weshalb ich es dem Som­mer-Hal­b­jahr zuordne.

Für die göt­tliche Seele, die sich in den vier Vari­anten des Pro­logs ausspricht, ver­hält es sich kom­pe­men­tär — nach meinem Dafürhal­ten: Der göt­tliche Gedanke ist die göt­tliche Weisheit, die in allen Sin­neser­schei­n­un­gen enthal­ten ist, weshalb der göt­tliche Gedanke zum Som­mer-Hal­b­jahr gehört. Die göt­tliche Erin­nerung lebt im men­schlichen Denken. Hier erfasst der Men­sch sein Ich, seinen göt­tlichen Funken, weshalb die göt­tliche Erin­nerung zum Win­ter-Hal­b­jahr gehört.

Vol­lziehe ich durch die vier Vari­anten eine inner­liche U Bewe­gung — das rote Som­mer-Hal­b­jahr als inkarnierende, absteigende Säule und das blaue Win­ter-Hal­b­jahr als exkarnierende, auf­steigende Säule gedacht — so zeigen die vier Vari­a­tio­nen einen Prozess an:

“… Und scheinen möge der göt­tliche Gedanke in mein Ich, / Dass die Fin­ster­n­is meines Ich ergreife / Den göt­tlichen Gedanken.” — hinein­scheinen, aufnehmen

„… Erfüllen möge der leuch­t­ende Gedanke / Die Fin­ster­n­is meines Ich, …“ — erfüllen, sich darin ausbreiten

„… Und die Fin­ster­n­is so, wie sie gegen­wär­tig ist, / Möge begreifen das Licht der göt­tlich gewor­de­nen Erin­nerung.“ — reagieren auf das Licht

“… Und als strahlen­des Erin­nerungslebenwird der Chris­tus leucht­en / In jede unmit­tel­bar gegen­wär­tige Fin­ster­n­is.” — zukün­ftiges Ausstrahlen

Der Jahres­lauf in der Tabelle ist so gedacht, dass ein Jahreskreis den gedacht­en Rah­men bildet: Dieser Jahreskreis zeigt das Som­mer-Hal­b­jahr in der linken und das Win­ter-Hal­b­jahr in der recht­en Spalte. Die vier großen Feste liegen jew­eils zwis­chen den Pro­log-Vari­anten: Ostern unten, Michaeli oben, Wei­h­nacht­en rechts im blauen Win­ter-Hal­b­jahr und Johan­ni links im roten Sommer-Halbjahr.

Vier Vari­anten des Pro­logs im Johannesevangelium

Rudolf Stein­er, GA 152, 7.3.1914, zitiert in Büh­ler, Der Stern der Weisen, 1982, S. 142ff (die Her­vorhe­bun­gen und Zuord­nun­gen zu den Viertel­jahren sind von mir)

Was sagt mir das Mantra 19 S?

Das Mantra 19 S begin­nt mit dem Wort „geheimnisvoll“. Was ist so geheimnisvoll daran, wenn ich mir ein Erleb­nis so ein­präge, dass ich es erin­nern kann? Das tun wir mehr oder weniger ständig. Und doch kön­nen wir alle erleben, dass nicht jede Erin­nerung jed­erzeit abruf­bar ist für uns. Die Irri­ta­tion, die dadurch entste­ht, lässt erah­nen, dass mit der Erin­nerung etwas Größeres, Bedeut­sameres ver­bun­den ist, als es zunächst den Anschein hat.

Was ist in diesem Zusam­men­hang das Neu-Emp­fan­gene? Es ist mein gegen­wär­tiges Erleben, meine Wahrnehmungen, Gefühlsreak­tio­nen, mein Ver­ste­hen und Han­deln im gegen­wär­ti­gen Moment: es ist all das, was ich später erin­nern möchte. Und damit dieses mit der Gegen­wart ver­bun­dene Erleben wachruf­bar ist, wenn die Gegen­wart Ver­gan­gen­heit gewor­den ist, müssen die Vorstel­lun­gen einen geheimnisvollen Prozess durchlaufen.

Das Neu-Emp­fan­gene soll mit der Erin­nerung umschlossen wer­den. Es soll eingeschlossen wer­den. Für mich klingt hier die men­schenähn­liche Form an, in die jede Vorstel­lung gebracht wird, um in den Äther- und physis­chen Leib eingeprägt zu wer­den. Aus den Zitat­en oben geht her­vor, wie kom­plex und eigentlich geheimnisvoll dieser Vor­gang ist. (Unter „Ergänzun­gen“ find­en sich konkretisierende Gedanken von mir über die Men­schen­form als „Abdruck“)

Dieses Mantra markiert einen deut­lichen Abschluss eines lan­gen Prozess­es. Erst Ver­gan­ge­nes lässt sich erin­nern. Dieses Umschließen des Neu-Emp­fan­genen mit Erin­nerung soll in Zukun­ft der Sinn meines Strebens sein. Das heißt, nur durch den Vor­gang des Umschließens kann ich bewahren, was ich erhal­ten habe, Nach­schub kommt nicht mehr.

Der Sinn meines Strebens soll es sein, das Neu-Emp­fan­gene mit der Erin­nerung zu umschließen. Diese For­mulierung klingt nach ziel­gerichteter Arbeit, nach ein­er Anstren­gung, die ein Fernes Ziel ver­fol­gt. Sie klingt danach, dass das Erstrebte gegen­wär­tig nur näherungsweise erre­icht wer­den kann.

Bedeutet das Umschließen vielle­icht, das ein voll­ständi­ger Wahrnehmungs-Gedanken-Zyk­lus, mithin ein ganz­er inner­er „Jahres­lauf“ durch­laufen wer­den muss, damit Wahrnehmung zu Erin­nerung wer­den kann?

Darstel­lung des Ouroboros auf dem Sarkophagschrein von Tutan­chamun ca. 1320 v.Chr.

Das Bild des Ouroboros, wörtlich des „Schwanzverzehren­ders“ (griechisch οὐρά ourá, „Schwanz“ und bóros „verzehrend“) kommt mir dazu in den Sinn. Der Ouroboros ist ein Sym­bol für die ewige Wiederkehr, für alles Zyk­lis­che — für die Zeit und Ewigkeit. Das Sym­bol zeigt, dass jedem Ende ein neuer Anfang innewohnt.

Der Ouroboros auf dem Sarkophagschrein gilt als die älteste Darstel­lung dieses Sym­bols. Der Ouroboros umschließt den Kopf des Pharaos, wodurch das Ewigkeits-Bewusst­sein des­sel­ben verdeut­licht wird. Und ein solch­es Ewigkeits­be­wusst­sein haben wir alle. Denn jed­er, der einen größeren Zeit-Zyk­lus überblickt, als die Dauer der eige­nen Gegen­wär­tigkeit zulässt (das ist schon ein 24-Stun­den-Tag, erst recht ein Jahr), erschafft sich dieses umschließende Bewusst­sein. Zwei Fähigkeit­en ermöglichen das Erfassen dieser größeren Zyklen: Erin­nern und Voraus­denken. Für das Jahr heißt das: nur indem ich mich an den ver­gan­genen Herb­st erin­nern und den kom­menden gedanklich voraus­nehmen kann, schließt sich in der Vorstel­lung der Jahres­lauf zu einem Kreis zusam­men und lässt mich seinen zyk­lis­chen Charak­ter erkennen.

Das Wort „Sinn“ („sei meines Strebens weitr­er Sinn“) bein­hal­tet nicht nur „Ziel“, son­dern auch „Bedeu­tung“. Den Sinn von etwas zu wis­sen, bedeutet auch den Beweg­grund, das Woher-und-Wohin, zu ken­nen. Mein Streben ist mein Entwick­lungs-Wille. Die aus der göt­tlichen Weisheit stam­mende Wahrnehmungswelt wurde in mir zur Vorstel­lung. Als physis­che Welt ist sie dem Tod ver­fall­en. Umschließe ich sie mit Erin­nerung, bere­ite ich sie für eine winzige Aufer­ste­hung vor, die geschieht, wenn ich das in der Ver­gan­gen­heit erlebte mit dem Leben der Gegen­wart erfülle und es erin­nere – d.h. in der Vorstel­lung erneuert erschaffe.

Dieser Teil schließt mit einem Dop­pelpunkt. Das Fol­gende erk­lärt den Sinn dieses Strebens näher.

Für das Ver­ständ­nis gibt es an dieser Stelle ein Prob­lem, denn es existieren zwei Ver­sio­nen des Mantras: In der Aus­gabe der Eury­th­miefor­men und bei der Plat­tform Anthrowiki.at heißt es: „Er soll erstark­end Eigenkräfte ….“ Dann bezieht es sich auf den Sinn. In der Fak­sim­i­le Aus­gabe von Stein­ers Hand­schrift ste­ht „Es soll erstark­end Eigenkräfte …“, eben­so in der Aus­gabe von Michael Debus. Dadurch wird auf das Neu-Emp­fan­gene Bezug genommen.

Erstere For­mulierung beleuchtet die Bedeu­tung meines Strebens näher, die zweite stellt das Neu-Emp­fan­gene als das Wirk­same dar.

  1. Ver­sion: Er, der Sinn, Ziel und Bedeu­tung meines Strebens soll erstark­ende Eigenkräfte im Innern weck­en. Der Sinn ist eine aus dem Innern des Men­schen kom­mende Aus­rich­tung und Bedeutung.
  2. Ver­sion: Es, das Neu-Emp­fan­gene, soll Eigenkräfte, die immer stärk­er wer­den, in meinem Inneren weck­en. Das Neu-Empfang´ne kommt dage­gen von außen.

Diese durch mein Streben oder durch die emp­fan­genen Ein­drücke erstark­enden Eigenkräfte sollen im meinem Innern geweckt werden.

Um welche Eigenkräfte han­delt es sich? Was das gegen­wär­tige Erleben bet­rifft, ver­ste­he ich meine vom Ich geführte Bewusst­sein­skraft, in Denken, Fühlen und Wille wirk­sam, als meine dreifach dif­feren­zierte Eigenkraft. Diese Eigenkräfte wirken zusam­men, um aus einem Erleb­nis Vorstel­lung und schließlich die einzuprä­gende Men­schen­form zu bilden, die es mir später ermöglicht, das Erin­nerungs­bild wachzu­rufen. Dieses Erin­nerungs­bild ist nun rein geistiger Natur, denn ihm entspricht keine gegen­wär­tige physis­che Wahrnehmung. Dadurch kann ich die zu weck­enden Eigenkräfte gle­ichzeit­ig als meine höheren Erken­nt­niskräfte verstehen.

Nun schließt mit „Und“ ein zweites Ziel an. Wer­dend soll ich mir sel­ber gegeben wer­den. Hier klingt der Gedanke meines seit Ewigkeit beste­hen­den Ziels an, meine Vol­lkom­men­heit, die schon immer da war und zu der ich als Entwick­lungswe­sen stetig hinge­führt werde. Indem ich im Wer­den, in Entwick­lung begrif­f­en bin, werde ich mir sel­ber gegeben. Mein Schick­sal als mein geistiges Sein wird mir gegeben, damit ich mich auf dieses Ziel zube­we­gen kann, indem ich die Erleb­nisse verinnerliche.

Die Fähigkeit der Erin­nerung ermöglicht es mir, ein Ich-Bewusst­sein aufzubauen, dass die nicht­be­wussten Zeit­en während des Schlafs über­brückt. Der Lebenslauf wird dadurch zur sel­ber gestal­teten, erschaf­fe­nen und in karmis­ch­er Hin­sicht auch selb­st ver­ant­worteten Biogra­phie. zur eige­nen Biogra­phie. Selb­st­be­wusst­sein, das Bewusst­sein vom eige­nen Selb­st entste­ht. Dieses Selb­st ist ein Wer­den­des. Ich kann es als wer­den­des Geist­selb­st anse­hen, dessen Entwick­lung Rudolf Stein­er als Ziel der Erden­mis­sion angibt. Betra­chte ich das Mantra vor dem Hin­ter­grund der Umwand­lung des Astralleibs in das Geist­selb­st, so geben alle gesam­melten Erin­nerun­gen, die ich aufer­ste­hen lassen kann im Erin­nern, mir meinen geisti­gen Kör­p­er, mein Geistselbst.

Zwei Ergänzungen:

1. Ein Gedanke zur Menschenform des Erinnerungsbildes als „Abdruck“

Rudolf Stein­er beschreibt den „Abdruck“, der im Äther­leib als Erin­nerungs­bild gele­sen wer­den kann, als men­schenähn­lich geformt. Auf der Suche nach beobacht­baren Anhalt­spunk­ten für diese Aus­sage, fiel mir ein, wie das Gedächt­nis durch drei Wege unter­stützt wer­den kann. Drei Gedächt­nis-Träger lassen sich unter­schei­den, die offen­sichtlich auf den drei Daseins­bere­ichen von Kör­p­er, Seele und Geist beruhen:

  1. Erin­nerun­gen binden sich fast von sel­ber an Gegen­stände, Orte oder Kör­per­re­gio­nen. Jed­er ken­nt das. Kaum kom­men wir an einen Ort, fällt uns alles Mögliche ein, was damit in Zusam­men­hang ste­ht. — Der äußere Raum und die Kör­p­er tra­gen dies Gedächtnis.
  2. Sprache bewahrt Erin­nerun­gen. Sie trägt den Inhalt durch ihre Klänge und Rhyth­men, weshalb dieses Gedächt­nis auch das rhyth­mis­che Gedächt­nis heißt. Es ist immer dann aktiv, wenn ein Lied oder Gedicht nur von Anfang bis Ende aufge­sagt wer­den kann und nicht par­tiell. — Die Zeit und ihre Gestal­tung trägt dies Gedächtnis.
  3. Begreife ich einen Sachver­halt, fällt es mir leicht, ihn zu erin­nern. Dies ist das abstrak­te Gedächt­nis. Überblicke ich den Zahlen­raum und die Geset­zmäßigkeit­en, der Mul­ti­p­lika­tion, kann ich entsprechende Auf­gabe lösen ohne die 1x1-Rei­he vom Anfang bis zur gesucht­en Lösung aufzusagen. Dies ist das am freiesten zugängliche Gedächt­nis und benötigt das klarste Bewusst­sein. — Die Gegen­wär­tigkeit im inneren Raum ermöglicht dies Gedächtnis.

An der Bil­dung ein­er Erin­nerung ist immer ein kör­per­lich­er Aspekt beteiligt, denn wir leben in einem physis­chen Kör­p­er. Fern­er ist auch ein sprach­lich­er Aspekt beteiligt, insoweit wir in Begrif­f­en denken. Und schließlich wirkt auch ein geistiger Aspekt im Bemühen um Ver­ständ­nis. So kön­nte der drei­gliedrige Abdruck seine men­schenähn­liche Form erhal­ten. Dieses men­schenähn­liche Abbild beschreibt Rudolf Stein­er so: „Er, der Abdruck, ist nur ein Zeichen. Und dieses Zeichen ist merk­würdi­ger­weise ähn­lich der men­schlichen Gestalt sel­ber. Und zwar, wenn Sie von der men­schlichen Gestalt die oberen Teile nehmen, den Kopf und höch­stens noch etwas vom Ober­leib und von den Hän­den, so haben Sie das, was jedes­mal im Äther­leibe beobachtet wer­den kann, wenn sich der Men­sch Erin­nerung bildet von einem Erleb­nis.“ (Lit.: GA 162, S. 50ff). In dieser Beschrei­bung ist der drei­gliedrige Men­sch zu erken­nen: mit dem Ner­ven-Sin­nessys­tem lokalisiert im Kopf, dem rhyth­mis­chen Sys­tem lokalisiert in der Brust und dem Stof­fwech­sel-Glied­maßen-Sys­tem vertreten durch die Hände. Denkbar ist, dass Erleb­nisse, deren Erin­nerun­gen an Gegen­stände gebun­den wur­den, Abdrücke aufweisen, die beson­ders dom­i­nant aus­ge­bildete Hände zeigen. Entsprechend weisen Erin­nerun­gen des rhyth­mis­chen Gedächt­niss­es Abdrücke auf mit her­vortre­ten­dem Brustko­rb und Erin­nerun­gen des abstrak­ten Gedächt­niss­es Abdrücke mit beson­ders aus­geprägter Kopfgestaltung.

2. Die zweite Stufe im Sternbereich

Das Mantra 19 S ist die zweite von neun Stufen des Sternbereichs.

Alanus ab Insulis (um 1120 – 1202 n. Chr.) beschreibt die Hier­ar­chien in sein­er Michael-Predigt als vom Men­schen zu errin­gende Entwick­lungsstufen. Aus dieser Predigt zitiere ich die zweite Stufe, die der Erzengel:

„Es gibt eine weit­ere Ord­nung, die den Men­schen die göt­tlichen Geheimnisse verkün­det; daher beze­ich­net sie die The­olo­gie als Erzen­gel (Archangeloi). Zu dieser Ord­nung wer­den diejeni­gen gehören, die lehren und Höheres verkünden.

….

Arbeite also, o Men­sch damit du …. Zu den Erzen­geln gezählt wer­den wirst, indem du andere über Höheres belehrst; …“ (Alanus ab Insulis, Über­set­zt und veröf­fentlicht von Wolf-Ulrich Klünker unter dem Titel, „Alanus ab Insulis“, 1993, S. 55)

Über die Engel schreibt Alanus in ein­er kleinen Schrift, genan­nt „Hier­ar­chia Alani“ (Hier­ar­chien­lehre des Alanus), dass: „die Engel vol­lkommen­er denken als die Men­schen; daher wird ihre Erken­nt­nis als Gotte­ser­schei­n­ung (theo­pha­nia) beze­ich­net. … Wenn wir [die Men­schen] näm­lich … die Schön­heit der [geschaf­fe­nen] Dinge, ihre Größe und ihre Ord­nung sehen, dann begreifen wir Gott nicht vol­lkom­men, son­dern hal­b­vol­lkom­men (semi­p­lene). Jedoch wird, was in der [men­schlichen] Erken­nt­nisweise unvol­lkom­men ist, in der Zukun­ft ver­vol­lkomm­net wer­den. Im Engel aber ist die Erken­nt­nis Gottes bere­its vol­lkom­men aus­ge­bildet.“ (Klünker, s.o. S. 17)

Wenn die vol­lkommene Gotte­serken­nt­nis schon den Engeln möglich ist – was verkün­den dann wohl die Erzen­gel an Großem?

Rudolf Stein­er hat beschrieben, wie jede der vier Jahreszeit­en einem Erzen­gel unter­stellt ist: Der Früh­ling Raphael, der Som­mer Uriel, der Herb­st Michael und der Win­ter Gabriel. Auch Zeit­epochen von 300 — 350 Jahren, so sagt er, unter­ste­hen jew­eils einem Erzen­gel. Erzen­gel regieren also Abschnitte eines größeren Ganzen wie es zum einen das Jahr ist, zum anderen die Gesamtheit der sieben Zeit­epochen, denn nach sieben solch­er Zeitab­schnitte begin­nt der Zyk­lus von Erzen­gel­re­gen­ten von vorne. Die Kraft, die einen neuen Zyk­lus ini­ti­iert und leit­et, gehört wiederum der nächst höheren Hier­ar­chie an. Diese wird uns in der Woche 20 T beschäftigen.

Vielle­icht lässt es sich so ver­ste­hen: Die Engel haben die vol­lkommene Erken­nt­nis, sie haben die Über­sicht über eine Ganzheit. Ich habe immer den Ein­druck, jede Woche ste­ht unter der Herrschaft eines Engels, der den ganzen sieben­tägi­gen Prozess der Woche zu ein­er Ganzheit zusam­men­fasst. Sie verkün­den Kleines – jed­er ein Mantra. Die Erzen­gel sind dage­gen die göt­tlichen Spezial­is­ten für Details. Sie verkün­den Großes, denn mit ihnen ler­nen wir eine viel umfassendere, größere Ganzheit ken­nen – so wie ein Jahr viel größer als eine Woche ist. Die Ganzheit, die die Engel verkün­den ist eine sta­tis­che, in der erneuernde, umwälzende Verän­derung noch nicht inbe­grif­f­en ist. Die sich entwick­el­nde Vol­lkom­men­heit ist ein größer­er Gedanke als die sta­tis­che Vol­lkom­men­heit. Die große Verän­derung, die durch Geburt, Tod und Aufer­ste­hung Christi für die Men­schheit möglich wurde, begann mit der Verkündi­gung eines Erzen­gels — des Erzen­gel Gabriel an Maria (Luk 1,26–38).

Das Hinein­spüren in das Mantra 19 S mit der Frage, was es über die Stufe der Erzen­gel aus­sagt, über­lasse ich dem Leser.