Die Gegensprüche 25 Y und 50 y
25 Y
Ich darf nun mir gehören Und leuchtend breiten Innenlicht In Raumes- und in Zeitenfinsternis. Zum Schlafe drängt natürlich Wesen, Der Seele Tiefen sollen wachen Und wachend tragen Sonnengluten In kalte Winterfluten. |
50 y
Es spricht zum Menschen-Ich, Sich machtvoll offenbarend Und seines Wesens Kräfte lösend, Des Weltendaseins Werdelust: In dich mein Leben tragend Aus seinem Zauberbanne, Erreiche ich mein wahres Ziel. |
Die Eurythmieformen zu den Mantren 25 Y und 50 y
Über den Buchstaben “Y”
Das Y gilt zwar als Konsonant und wird wie im Wort ‘Yoga’ als J gesprochen, doch hat es im Griechischen, Französischen und Russischen sowie z.T. auch im Deutschen den Lautwert Ü, also den eines Vokals. Ursprünglich bedeutete das Y sogar U, den letzten der fünf Vokale. Deshalb wurde im Griechischen das Y‑psilon ‘einfaches U’ genannt, wie auch das Epsilon eben E‑psilon, ‘einfaches E’ hieß. ‘Ypsilon’ ist also kein Name, wie z.B. ‘Rad’ für den R‑Laut, sondern eine äußerliche Abgrenzung zum zusammengesetzten U, dem OY. Als Y im Griechischen noch den U‑Vokal bedeutete, übernahmen die Römer das Y zur Wiedergabe ihres U- und V‑Lautes. So vollzog sich sich im Lateinischen die Aufgliederung des einheitlichen Y der Griechen in ein konsonantisches V und ein vokalisches U und wiederholte damit eine Aufteilung, die auch bei der Übernahme des hebräischen Alphabets ins Griechische stattgefunden hatte. Das griechische Ypsilon stammt vom hebräischen Vav (Waw) und stellt den vokalischen Aspekt dieses Lautes dar, während der konsonantische zum Bau- oder Vau-Buchstaben mit dem Lautwert V wurde. Die Buchstabenformen von Y, U, V (und W) lassen diesen Zusammenhang noch erkennen. Vom Y zum V und U geht lediglich der mittlere Strich, bildlich die Einheit vor der Teilung verloren, denn auch das Y kann gerundet geschrieben werden.
Das Y kommt in unserem Alphabet und im Seelenkalender nach dem X. Kann das X als Bezeichnung für das ‘Exoterische’ verstanden werden, als Ausdruck des äußerlich Sinnenfälligen, so das Y als Bezeichnung für das ‘Mystisch-Esotherische’, das Verborgene, Geheime. Das Y ist der Mysterienlaut, was seine Verwandtschaft mit dem U verdeutlicht, dem Laut der ‘unio’ und ‘communio’, der Laut der ‘unio mystica’ eben. Doch warum ist dies so? Bevor ich dem Y vor allem in der griechischen Sprache nachgehe, will ich seine Form betrachten.
Die Form des Y ähnelt der Elhaz- oder Algiz-Rune ᛉ des älteren Futhark und hat den Lautwert Z. Für die Bedeutung von Elhaz wird Elch angenommen. Da die Form der M‑Rune Mannaz ᛗ (‘Mann’ oder ‘Mensch’) sich wandelte zur Madhr-Rune des jüngeren Futhark und nun Verwechslungsgefahr bestand, wurde die Elhaz-Rune oft gestürzt (auf den Kopf gestellt) ᛣ verwendet.
Nach dem völkischen Autor und Esoteriker Guido List (1848 — 1919), der 1902 ein 18-Zeichen-Runenalphabet erfand, ist die mit der Elhaz- bzw. Algiz-Rune fast identische Man-Rune die ‘Lebensrune’ und ihre gestürzte Variante, die Yr-Rune, die ‘Todesrune’. Im Dritten Reich und danach wurden beide Varianten z.B. auf Grabsteinen verwendet, um Geburts- und Todesdatum zu markieren.
Trotz dieses Runenmissbrauchs lohnt es sich, diesem Symbol der Elch- bzw. Z‑Rune und der späten Form der Mannaz- bzw. M‑Rune nachzugehen, um das Y als Mysterienlaut zu verstehen.
Aus der Gotik stammen sogenannte Gabelkreuze, die den Lebensbaum als Baum des vererbten, generativen Lebens darstellen. Wohl aus Italien kommend verbreitete sich im Rheinland und Westfalen diese Kreuzform als Kreuz des leidenen Christus, Crucifixus dolorosus („schmerzensreichen Gekreuzigten“), als Pest- oder Schächerkreuz. Die von Natur aus an einen Baum mit Astabzweigungen erinnernde Kreuzform geht vermutlich auf Mystiker des 13. und 14. Jahrhunderts zurück, die in dieser Y‑Kreuzform den Baum des Lebens sahen. So zeigt das Gabelkreuz aus Haltern, das gegen den Strom schwimmend bei diesem Ort aus dem Fluss Lippe gefischt worden sein soll, viele weitere Astabzweigungen. Auch das Pestkreuz aus Neuss zeigt Baum-Chakakter.
1. Der leidende Christus am Gabelkreuz, stilisiert als Lebensbaum, um 1340, Pfarrkirche St. Sixtus, Haltern in Westfalen
2. Pestkreuz Neuss, St. Quirin, um 1360
Auch wenn das Kreuz selber rechtwinkelig gebildet ist, wird Christus überwiegend in einer Y‑Haltung, mit hochgezogenen Armen bzw. herabgesunkenem Körper dargestellt. Besonders deutlich wird dies auf dem Kreuzigungsbild des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald. Diese Darstellungsweise unterstreicht das Leiden Christi und tritt erst im Mittelalter auf.
Die Elhaz- oder Algiz-Z-Rune ᛉ ist der Elch. Das Geweih ist das Zeichen der Meditationskraft des Menschen, denn anders als das Kuhgehörn muss es jährlich neu gebildet werden — ganz wie die meditative Geisteshaltung jeweils neu errungen werden muss. Ein Beispiel ist der meditierende Schamane mit Hirschgeweih auf dem Silberkessel von Gundestrup. Das Gehörn bringt den Strom der vergeistigten Blutskräfte ins Bild, der durch die Ätherisation des Blutes bereits durch den Tod gegangenen Lebenskräfte. Nach Rudolf Steiner bildet die Ätherisation des Blutes die Grundlage für das über die direkten körperlichen Belange hinausreichende, seiner selbst bewusstwerdende Bewusstsein. So wundert es nicht, dass die Mannaz-M-Rune sich diesem Zeichen anglich, denn es ist der Mensch, der Bewusstsein von sich selbst erlangt. Da Mannaz mit Manas, dem Geistselbst zusammenhängt, meint es den geistigen, den zukünftigen Menschen (siehe 13 M — 38 m). Die Zeichen ähneln sich nicht grundlos. Sie verweisen auf das gleiche Geheimnis, die Überwindung des irdischen, leidenden Menschen, um den geistigen, den unsterblichen Menschen zu finden. Der Auferstandene Christus wird der “Erstgeborene der Schöpfung” (Kolosser 1,15) genannt, denn er ist der erste Mensch, der den Tod überwand. Interessanterweise trägt auch der Riese Ymir das Y im Namen. Aus seinem Leib, so erzählt es die nordische-germanische Mythologie, entstand die gegenwärtige Welt.
Das mit dem Y verwandte U ist das Grab (siehe 21 U — 46 u). Als Teil der Einweihung wurde der Myste symbolisch ins Grab gelegt. Die griechische Sprache hat viele Worte, die das Y mit den Mysterien in Zusammenhang bringen. Der Eingeweihte heißt ‘mýstes’, der heilige Gesang ist der ‘hýmnos’, die Nacht ist nýx’, das Versteck, das Innerste, Verborgene ist ‘mychós’ und die Fähigkeiten der Maus, ‘mys’, hatte sich der Myste anzueignen, damit er sich zurückziehen, dem Zugriff profaner Hände entziehen konnte. Von Christus wird dies wiederholt geschildert. “Aber als Jesus das erfuhr [dass die Pharisäer ihn fangen wollten], wich er von dannen” (Matth 12,15)
Auch ein neuer Gedanke kann so unscheinbar und schnell vorbeihuschen wie eine kleine Maus. Ein Eingeweihter muss gelernt haben, einen solchen mystischen Gedanken trotzdem wahrzunehmen. Slawisch heißt Gedanke ‘mýslij’ und russisch ‘müsh’ [ꙧꙐꚇꙏ] die Maus. Klanglich sind sich die Worte Gedanke und Maus ähnlich. Rudolf Steiner beschreibt, wie der Yogi früherer Zeiten durch den Atemvorgang, der den Nerven-Sinnes-Organismus durchpulst (durch die Bewegung der Rückenmarksflüssigkeit) sein Bewusstein veränderte. Er sagt: “Dadurch erlebte der Yogi einen inneren Vorgang, der sich zusammensetzte aus dem, was durch den Nerven-Sinnesprozess erfolgte, und dem, was durch das Gehirn und auch durch die Sinne hindurchwellte. … Dadurch kam an diesen Yogi etwas ganz Besonderes heran. Er strahlte das Denken, das sonst kaum als ein Kopfvorgang gefühlt wurd, in seinen Organismus hinein. Er dacht nicht bloß, sondern er fühlte, wie der Gedanke — ich möchte sagen — wie so ein Tierchen durchlief, durch den Atmungsvorgang, den er künstlich hervorgerufen hatte.” (GA 212 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 437) Diese von Rudolf Steiner erwähnten “Tierchen” identifiziert Ernst Moll mit Mäusen.
Wird das Y als Ü ausgesprochen, so gilt, was Rudolf Steiner allgemein über die Umlaute sagt: Es ist so, dass “wenn aus dem [gewöhnlichen] Laut der Umlaut wird, man hineinkommt in das sinnlich nicht mehr in festen Konturen Auftretende, sondern in das mehr Zerflatternde, Zerstäubende. Das ist aber zu gleicher Zeit schon ein Hineingehen in das Geistige.” (GA 279 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 435) Am Beispiel der Mehrzahlbildung macht Rudolf Steiner das deutlich: “Ein ‘Wagen’ [singular], das ist etwas Festes, in sich Beschlossenes. Die ‘Wägen’ [Plural], da sind die Konturen nicht so scharf, das Ding wird auseinandergerissen. … So müssen Sie empfinden das Dumpferwerden [im Singular “Wagen”] und das Hellerwerden [im Plural “Wägen”]. Heller wird der Laut, weil sich die Sache zerstreut; z.B. ‘Baum, Bäume’.” (GA 280 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 435) So ist ein ‘Gut’ etwas konkret Gegebenes, Dichtes, ‘Güter’ dagegen “sind viele, nicht so konkret mehr. … immer wenn der Vokal heller wird ist das Ding auseinandergerissen, weicher gemacht. Der Vokal wird im Plural heller, weil sich im Plural [wo der Umlaut auftritt] die Sache verstreut.” (GA 280 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 435) Und an anderer Stelle: “Sehen Sie, wo die Diphtonge sind oder Umlaute sind, ist immer etwas von der Empfindung da: die Sache wird schwummelig, nebelig, undeutlich. Undeutlich werden die Dinge einach in der Mehrzahl; z.B. wenn ein Bruder da ist bloß, da ist er ganz deutlich. Nehmen wir die Mehrzahl, da müssen wir es undeutlich überschauen: Brüder; wenn Undeutlichkeit für die Anschauung hervortritt, … dann erscheint der Umlaut.” (Zitiert nach Dubach-Donath, Die Grundelemente der Eurythmie, in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 435f) Zum Ü sagt er dort auch, es sein ein ‘Versprühen’, es sei, wenn “Staunen mit Freude” in den melancholischen U‑Laut hineinkommt. Und auch wenn es ‘düster’ wird, wenn man ‘müde’ wird, gehen die Konturen verloren. So kommt man, sagt Rudolf Steiner dort, in die “Bangigkeit hinein, dass es schief gehen könnte.” (in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 436)
So ist das Y im Griechischen die Tiefe, die Spalte, das Grab und die Schlucht. ‘Styx’ heißt der Fluss in der Unterwelt, der Welt der Toten, im Hades, ‘bythós’ heißt ‘versinken’ und ‘bythizein’ ‘versenken’, ‘byssós’ und ‘pýndax‘ sind die ‘Tiefe’, ‘abyssos’ der ‘Abgrund’. Das Y im ‘mythos’, griechisch ‘Rede, Wort’, ist der tiefere Sinn, ‘hýle’ der ‘Wald’ und gleichzeitig ‘Materie, Stoff’. Im Waldesdunkel wurde das Geheimnis der Materie, der Stoffes-Hülle erlebt, die das Licht, das Y, gebiert. Der ‘Uterus’, im Deutschen, ganz auf U gestimmt, ist griechisch ‘hystéria’. ‘Phýein’ bedeutet ‘erzeugen’, ‘hervorbringen’, ‘bekommen’ und ‘phýsis’ ist die ‘Geburt’, die ‘Natur’, die ‘Herkunft’ und ‘Schöpferkraft’. Und in griechisch ’nýmphe’ ‘Braut’ und ’nymphíos’ ‘Bräutigam’ erscheint die unio, die mystische Einheit in der Sinneswelt. Der ‘Boden’, der ‘Fuß’ ist ‘pythmén’, doch während der Leib herabsinkt auf den Grund, das Grab, vereinigt sich die Seele, ‘psyché’ mit der geistigen Welt. Aus dieser Vereinigung kann die ‘Phythia’ wahrsagen, ‘pýthon’ heißt ‘wahrsagend’ und ‘atmen, hauchen’ ‘psýchein’. Dieser Gegensatz von ‘unten’ und ‘über’, von ’sub’ und ’super’, von hypó’ und ‘hyper’ findet gleichermaßen im Deutschen, Lateinischen und Griechischen. ‘Hybris’ ist übersteigerter ‘Übermut’, ‘hýpsos’ die ‘Anhöhe’, dem auf Seelenebene das Hineingeraten in die Extase entspricht. Das ist das Element des ‘Dionysischen’, das Unscharf-Werden des Y als Ü.
Die ‘Krypta’ ist der unterirdische, geheime Kirchenraum. ‘Krýphios’, der ‘Geheime’ wird der zweite Einweihungsgrad der Mithrasmysterien genannt. Der ‘Sohn’ ist ‘hyiós’ oder ‘hyiýs’, der ‘Fisch’ ‘ichtýs). So ist das Y im Griechischen eng mit dem Christus verbunden. ‘Gesundheit’ heißt ‘hygíeia’ und ‘heilen’ hygiázesthai’. Das Y vereint die Gegensätze, ’syn’ heißt ‘zusammen’ und ermöglich dadurch das Leben. Als Konsonant, der einen vokalischen Lautwert verkörpert, wirkt das Y wie ein Zukünftiges, noch uneindeutiges, ungeborenes Lautwesen. Dadurch ist es Bild des aufsteigenden Bewusstseinslichtes, das noch verbunden ist mit der Materie, der Hervorbringerin des Lichtes.
Ernst Moll schreibt zusammenfassend über das Y: “Das Y ist das Geheimnis der Seele, ihr Mysterium. In der Gruft, in der Krypta des Leibes wird sie gefangen gehalten; sie sehnt sich nach Einssein im Geiste. Im Psi von ‘psyché’ und im S von ‘Seele’ droht die Seele zu zerrreißen, sie wird geheilt durch die Kommunion: im Y, im U.” (Die Sprache der Laute, S. 438)
So wie das X der weibliche Aspekt des Menschen ist, sein Denken, das Leben hervorbringt aber auf Befruchtung angewiesen ist, so ist das Y der männliche Aspekt des Menschen, sein Bewusstseinslicht, seine Wahrnehmung, das was sichtbar leuchtet und anderes sichtbar macht.
Über die Gegensprüche 25 Y und 50 y
Die Mantren 25 Y und 50 y weisen beide einen Ich-Sprecher auf. Im Mantra 25 Y ist es ein sich selbst reflektierender Sprecher, im Mantra 50 y die Werdelust des Weltendaseins, die das Menschen-Ich als Hörer anspricht. Hier ist also von zwei wachen Entitäten auszugehen. Die Mantren stehen durch ihre Zahl in einem besonderen Verhältnis, da 25 die Hälfte von 50 ist. Es fragt sich also, ob sich diese Zahlbeziehung in den Mantren wiederfindet.
Das Mantra 25 Y beschreibt einen intimen Innenprozess, die Hinwendung zum eigenen Inneren, wie sie am Abend, nach getaner Arbeit, möglich ist. Der Ich-Sprecher erkennt, dass er nun sich selbst gehören darf. Alle Außenorientierung durch die Sinne ist beendet. Er darf nun Innenlicht leuchtend ausbreiten in Raumes- und Zeitenfinsternis. Das Licht seiner Bewusstseinssonne darf nun den seelischen Innenraum ausleuchten, die Finsternis der eigenen Innenwelt beleuchten mit den sonst unbewusst bleibenden Überzeugungen, Gefühlen und Willensimpulsen, mit all den festgefahrenen inneren Mustern und Reaktionsweisen. Dies geschieht z.B. beim Tagesrückblick, wenn gefragt wird, welche Motive das eigene Handeln bestimmt haben, wie die Verkettungen der Ereignisse durch eigene Entscheidungen und Emotionen mitbeeinflusst wurden. Dann geht die Betrachtung des Innenraumes über in die zeitliche Dimension und erhellt die Zeitenfinsternisse.
Die linear fließend erlebte Zeit rundet sich durch ihren zyklischen Charakter zum Zeitraum, zum Tages- oder Jahreskreis. Wird die Sonne als Schöpferin dieser Zyklen nun nicht auf dem Kreisbogen entlanglaufend sondern im Zentrum gedacht, als Quelle der Zeit, so strahlt sie den Zeitraum aus, wie das Bewusstseinslicht den seelischen Innenraum. So kann der Jahreskreis als das Große, der Seelen-Bewusstseinraum als das diesem Großen entsprechende Kleine betrachtet werden. Eine gegenseitige “Beleuchtung”, ein vertieftes Verstehen sowohl des Jahreskreises, als auch des menschlichen Inneren wird dadurch möglich. Der Jahreskreis wird erkennbar als menschheitliches Urbild des Seelen-Bewusstseinsraumes und letzterer wird sozusagen lesbar durch den Jahreskreis. Dann ist leuchtendes Innenlicht in Raumes- und in Zeitenfinsternis gebreitet.
Das Bewusstseinslicht entsteht, wie Rudolf Steiner sagt, durch den aufsteigenden Blutstrom, der bis zum Herzen ein Lebensstrom ist und dann durch die Ätherisation des Blutes im Herzen durch einen latenten Sterbevorgang zu Geist wird, zu Bewusstseinslicht. Dieses aus der eigenen Lebenskraft entstandene Licht ist der Mensch selbst und gleichzeitig gehört das Bewusstseinslicht ihm. Das spricht der Ich-Sprecher im Mantra aus, wenn er sagt, “Ich darf nun mir gehören”. Er darf nun sein Innenlicht leuchtend ausbreiten, um die Daseinsgrundlage zu erkennen, die sowohl räumlich als auch zeitlich in Finsternis getaucht ist. Und dieses Bewusstseinslicht soll erhalten bleiben, wenn das körperliche, das natürliche Wesen des Menschen zum Schlaf drängt. Gewöhnlich löst sich das Geistig-Seelische beim Einschlafen vom Körper los und der Mensch verliert das Bewusstsein. Doch im Mantra sollen die Tiefen der Seele wachen, das Bewusstseinslicht soll erhalten bleiben und nicht erlöschen.
Nicht schlafend wie gewöhnlich, sondern wachend sollen Sonnengluten in kalte Winterfluten getragen werden. Der Gegensatz von Sonnengluten und Winterfluten lässt an die Halbjahre denken: das warme, sonnendurchflutete Sommer-Halbjahr und das kalte, nasse Winter-Halbjahr. Diesen Halbjahren entspricht die nach außen gerichtete Wahrnehmungsseite der Seele und ihre nach innen gerichtete Denkseite. Die Sonnengluten versteh ich als die Wahrnehmungen. Und mit der Wahrnehmung geht das gefühlsmäßige Bewerten aller Sinneseindrücke einher, die sympatische oder antipatische Reaktion. Hier herrscht die feurig emotionale Seite der Seele. Die Denkseite ist dagegen logisch, kalt. Die Gedanken durchfließen das Bewusstsein, das selber gerne mit Wasser verglichen wird. Beständig werden Wahrnehmungen, Sonnengluten, in kalte Winterfluten, in das denkende Bewusstsein getragen, doch geschieht dies unbewusst. Nun soll dies wachend geschehen, damit die Bewertungen von Sympathie und Antipathie bemerkt werden, die Denk-Schritte und Schlussvolgerungen bewusst gezogen werden. Die für gewöhnlich unbewusst sich vollziehenden Vorgänge sollen mit Bewusstsein begleitet werden.
Das Mantra 25 Y ist geprägt durch das mystische Licht. Im aufsteigenden Strom, der das Bewusstseinslicht erzeugt, ist das Y erkennbar. Um das Mantra noch besser zu verstehen, will ich dieses Thema vertiefen. Rudolf Steiner sagt, dass dieser aufsteigende Bewusstseinsstrom sich teilt und an beiden Stirnseiten aus dem Kopf austritt. Dies hat zu der imaginativen Anschauung der Hörner geführt, mit denen Moses oft dargestellt wird — ganz entsprechend der Form des Y. Auf dem Bild unten ist Moses mit den zwei Lichtbündeln zu sehen, die aus seinem Kopf austreten. Auch der Baum mit der Schlange erinnert an die Y‑Form bzw. an das Gabelkreuz, den Lebensbaum. Dargestellt ist die Aufrichtung der ehernen Schlange während der Wüstenwanderung des hebräischen Volkes. Weil die Menschen durch den Biss feuriger Schlangen starben, erhielt Moses die Weisung von Jhave, an seinem Stab die eherne Schlange aufzurichten. Wer zu ihr aufsah, sollte geheilt werden.
In der aufrechten einzelnen Linie unter der Gabelung ist das “Ich darf nun mir gehören” verbildlicht und auch die Aufforderung wach zu bleiben. Die Gabelung des Y, die Verbildlichung des Gegensatzes findet sich in den beiden Paaren: Raumes- und Zeitenfinsternis sowie Sonnengluten und Winterfluten. Inhaltlich gehört die Finsternis des Abgrunds und das Darüberstehen, das Beleuchten der Raumes- und Zeitenfinsternis zum Y. Das Leiden des Gekreuzigten klingt ganz leise an im Aufruf zu wachen, während der Körper zum Schlaf drängt.
Aufrichtung der Schlange durch Moses an einem Y‑förmigen Kreuz, Chorfenster der Andelsbuch Pfarrkirche
Auf dieses Bild will ich vertieft eingehen, um “Licht in Raumes- und Zeitenfinsternis” (25 Y) zu bringen. Der Stab, an dem die Schlange aufgerichtet wurde, ist hier ein Y‑artiger, an die Elhaz- oder Algiz-Rune ᛉ erinnernder Baum. In der christlichen Kunst findet sich statt des hier dargestellten Y‑förmigen Kreuzes häufig auch das T‑Kreuz, seltener das vierarmige Kreuz.
Die Szene wird von Jesus Christus zitiert, um auf seine Kreuzigung hinzuweisen. Zu Nikodemus sagt er: „Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, in ihm das ewige Leben hat.“ (Joh 3,14–15)
Um die Auferstehung zu verstehen, ist es also notwendig, zuvor die Aufrichtung der Schlange zu begreifen, sie innerlich zu vollziehen. Im Alten Testament heißt es: „Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.“ (Num 21,6–9)
Die feurigen Schlangen kann ich als das Getrieben-Sein durch die Zeit erleben – jeder Tag eine neue feurige Schlange. Stellt der Jahreskreis sich als Ouroboros, als Schlange, die sich in den Schwanz beißt dar, so ist jeder Tageszyklus eine eben solche kleine Schlange. Die im Jahreslauf erlebbare, äußere Zeit vollzieht sich auf der Erde – um uns herum. Hier liegt der Jahreskreis sozusagen waagerecht. Erhebe ich ihn jedoch zu einer Vorstellung, so stelle ihn wörtlich vor mich hin — erhebe ihn, sodass das Sommer-Halbjahr oben, das Winter-Halbjahr unten ist. Nach meiner Erfahrung sehen die meisten Menschen den Jahreskreis so.
Die Vorstellung des Jahreskreises ist eine sogenannte “gegenstandsfreie” Vorstellung, wie Rudolf Steiner es für die geistige Wahrnehmung fordert, denn niemand kann einen ganzen Jahreskreis auf einmal sehen. Wir erleben ihn nur nach und nach. Nur durch Vorausdenken und Erinnern erschafft sich diese Vorstellung. Sich dessen bewusst zu werden, erfordert zwingend gegenwärtig zu werden.
Das stets sonnengleich ausstrahlende Licht des Bewusstseins muss also zur Gegenwärtigkeit erhoben und die “gegenstandsfreie” Vorstellung – das reife Werk des Denkens (des Winter-Halbjahres) muss bewusst – aufrecht – vor die Seele gestellt werden. Das ist die Erhebung der Schlange. Das heilt, denn wer gegenwärtig im Jetzt ist, wird nicht mehr von der Hektik des Alltags, — den feurigen Schlangen — verfolgt.
Das Bewusstseinslicht im Menschen ist die Christuskraft, die die Kreuzigung noch vor sich hat. Es ist das Licht des irdischen Bewusstseins. Im Jetzt, im hellsten Aufleuchten des Bewusstseins, scheint die Zeit stehen zu bleiben. Das ist Kreuzigung. Hier ist das Bewusstsein an die Wahrnehmung der fünf irdischen Sinne gebunden, genagelt an die Raum-Welt. Die fünf Wundmahle Christi werden (unter anderem) als diese fünf Sinne betrachtet.
Der Schritt über das Jetzt hinaus ist der Weg zur Auferstehung. Meine kleine Bewusstseinssonne, die meinen Seelen-Bewusstseinsraum ausstrahlt, ist Abbild der großen Sonne im Zentrum des aufgerichteten, rein geistig wahrnehmbaren Jahreskreises. Dies große Sonne hat Rudolf Steiner in den Mantren des Seelenkalenderns dem irdischen Bewusstsein zugägnlich gemacht. Meine kleine Bewusstseinssonne geht wie die große Sonne durch Phasen von Dunkelheit. So folgt der Kreuzigung die Grablegung und Höllenfahrt. Erst danach ist Auferstehung. Nur schrittweise gelingt es, die Wesensgleichheit der eigenen Bewusstseinssonne mit der großen Sonne zu realisieren.
Komme ich zur Form des Y zurück, so finde ich in der aufrechten einzelnen Linie unter der Gabelung das “Ich darf nun mir gehören” verbildlicht und auch die Aufforderung wach zu bleiben. Die Gabelung des Y, die Verbildlichung des Gegensatzes findet sich in den beiden Paaren: Raumes- und Zeitenfinsternis sowie Sonnengluten und Winterfluten. Inhaltlich gehört die Finsternis des Abgrunds und das Darüberstehen, das Beleuchten der Raumes- und Zeitenfinsternis zum Y. Das Leiden des Gekreuzigten klingt ganz leise an im Aufruf zu wachen, während der Körper zum Schlaf drängt.
Im Mantra 50 y spricht die Werdelust des Weltendaseins zum Menschen-Ich. Diese Werdelust der Welt, ihr Entwicklungswille, ist die Lebenskraft, die in allen Lebewesen lebt, sich von Generation zu Generation fortpflanzt und die Evolution des ganzen Lebens auf der Erde durchzieht. Sie offenbart sich in diesem ewigen Schaffen machtvoll. Ihr Wirken, ihre Macht drückt sich aus in den Vererbungsgesetzen, in der Kombination der Merkmale, in der Evolution der Arten, im Streben nach Gleichgewicht in den Naturreichen — in allem Leben. Die Werdelust ist die lustvoll treibende Kraft, die die Körper erschafft und belebt.
Sie löst die Wensenskräfte des Ichs. Was sind denn die wesentlichen Kräfte des Ichs? Mindestens von zwei Kräften spricht das Mantra. Und warum waren sie bis dahin gebunden? Gehe ich davon aus, dass die Werdelust das Ziel hat, Bewusstsein zu werden, so kann sie dies nur graduell in den einzelnen Lebewesen. Nur der Mensch kann wirkliches Selbstbewusstsein, also Bewusstsein von sich selber entwickeln. Der Mensch kann absehen von sich selbst, sich distanzieren und wie von außen betrachten. Und nur den Mensch kann sich liebevoll zuwenden, ohne dabei eigene Interessen zu verfolgen. Gebunden an den eigenen Leib, den eigenen Vorteil können diese Kräfte als Sympathie- und Antipatiekräfte angesprochen werden. Doch wenn der Mensch zum Selbstbewusstsein erwacht, erhält er die Möglichkeit, losgelöst davon zu handeln. Durch Entwicklung, durch die Werdelust wurden ihm die Kräfte seines Ich-Wesens losgelöst und zur freien Verfügung gestellt.
In der Werdelust des Weltendaseins (50 y) erkenne ich den Baum des Lebens, den Baum der Generationen. Jedes Lebewesen ist untrennbarer Teil dieses Baumes. Die sich aus der Lebenskraft durch Todesprozesse entwickelnde Bewusstseinskraft ist zunächst noch an diesen Baum geheftet. Doch dem Menschen wurden seine Kräfte gelöst. Er kann die Werdelust aus ihrem Zauberbann befreien, indem er Selbstbewusstsein entwickelt und an sich arbeitet, um die seinen Egoismus, die Bindungen an die Eigeninteressen zu überwinden.
Das Innenlicht (25 y) ist die Bewusstseinskraft, die schon in der Paradiesgeschichte im Bild der Schlange erscheint und den Menschen verführt. Sie ist auch die Zeit, die über die Erde kriecht und gerade durch ihren schlangenhaften, linearen Charakter Begierden weckt und Angst schürt — der zum Tod führende Biss der feurigen Schlangen. Wird die Schlange in der Gegenwärtigkeit erhoben, scheint die Zeit still zu stehen. Innere Ruhe kehrt ein und die Grundlage zur höheren Entwicklung des Bewusstseins, zur Entwicklung von körperunabhängigem Bewusstsein ist gelegt.
Im Mantra 25 Y, dem das große Y beigegeben ist, geht es um das innere Licht, das Bewusstseinslicht. Im Mantra 50 y spricht die Werdelust zum Menschen-Ich. Die universelle Lebenskraft, die durch alle Organismen hindurchlebt, will ihr Leben in das Menschen-Ich tragen. Das Y dieses Mantras (50 y) wurde durch Rudolf Steiner, wie alle Buchstaben des Winter-Halbjahres, mit einem Querstrich darüber versehen. Dieses Y ist also das untere, in meiner Darstellung der kleine Buchstabe. Das erstaunt, denn spontan könnte man meinen, dass das Bewusstseinslicht, das im Innern aufsteigt, das Kleine und Untere ist, die Lebenskraft der Welt jedoch das Obere, Große. Dem ist der Zahl des Mantras nach so, nicht aber nach dem Buchstaben. Die Zahl sagt, dass die Werdelust (50 y) das Umfassende, Große ist und das Bewusstseinslicht (25 y) die notwendige Ergänzung, die andere Hälfte. Der Buchstabe verortet diese Lebenenskraft und Bewusstseinslicht im Körper und kommt so zu einem anderen Ergebnis. Die Lebenskraft der Welt hat das Ziel, im Lebewesen aufzusteigen und zu Bewusstsein zu werden. Deshalb ist sie das untere y, das Innenlicht das obere Y.