Die spiegelnden Lichtspruch-Mantren 22 V und 31 e

22 V

Das Licht aus Weltenweit­en,

Im Innern lebt es kräftig fort:

Es wird zum See­len­lichte

Und leuchtet in die Geis­testiefen,

Um Früchte zu ent­binden,

Die Men­schenselb­st aus Wel­tenselb­st

Im Zeit­en­laufe reifen lassen.

31 e

Das Licht aus Geistestiefen,

Nach außen strebt es son­nen­haft:

Es wird zur Lebenswil­len­skraft

Und leuchtet in der Sinne Dumpfheit,

Um Kräfte zu ent­binden,

Die Schaf­fens­mächte aus See­len­trieben

Im Men­schen­werke reifen lassen.

Musik zum Mantra 31 e — drohend — komponiert von Herbert Lippmann

Musik zum Mantra 22 V — angespannt — komponiert von Herbert Lippmann

Die Venusfigurine und der Löwenmensch von der Schwäbischen Alb

Die Venus­fig­urine vom Hohle­fels und der Löwen­men­schen vom Holen­stein-Stadel, bei­de auf der Schwäbis­chen Alb nur 50 km voneinan­der ent­fer­nt gefun­den, sind die ältesten plas­tis­chen Darstel­lun­gen des Men­schen, die weltweit bish­er gefun­den wur­den. Der Löwen­men­sch zeigt erwiesen­er­maßen einen Mann. Seine Darstel­lung ist einzi­gar­tig, während in der Venus­fig­urine ein Typ erken­nt wer­den kann, der über viele Jahrtausende und weite Ent­fer­nun­gen wieder­holt wurde. So zeigt die Venus von Wil­len­dorf diesen Typ, eben­so zwei Venus­fig­uri­nen von Kostën­ki, (Kalk­stein, ca. 25.000 – 20.000 Jahre alt, Rus­s­land) oder die Venus von Amien-Renan­court, (Kalk­stein, 23.000 Jahre alt, Nord­frankre­ich). Die Venus­fig­urine vom Hohle­fels hat keinen Kopf und hat­te auch nie einen, denn statt eines Kopfes ragt eine Öse aus der Fig­ur. Auch der Löwen­men­sch hat zwar eine aufrechte, men­schliche Hal­tung, jedoch keinen men­schlichen Kopf — er hat einen Löwenkopf. Sofern die Venus­fig­uri­nen einen Kopf aufweisen, wie z.B. die Venus von Wil­len­dorf, so wirkt dieser trotz­dem tief unbe­wusst, schlafend.

Venus vom Hohle­fels, Mam­mut-Elfen­bein, ca. 6 cm hoch, 2008 auf der Schwäbis­chen Alb gefun­den, 35.000 — 40.000 Jahre alt

Löwen­men­sch (aus zwei Per­spek­tiv­en) vom Hohlen­stein-Stadel im Lone­tal, Mam­mut-Elfen­bein, ca. 31 cm hoch, 1939–2012 auf der Schwäbis­chen Alb gefun­den, 31.000 — 45.000 Jahre alt

Bis zur let­zten Eiszeit lebten in Europa Höh­len­löwen. Sie wur­den so genan­nt, weil ihre Knochen meist in Höhlen gefun­den wur­den, doch nimmt man an, dass sie wie die bedeu­tend kleineren afrikanis­chen Löwen über weite Flächen streiften. Durch Schnittspuren an Höh­len­löwen-Knochen, die zeigen, dass das Fell mit­samt der Krallen vom Knochen gelöst wurde, nimmt man an, dass schon der Nean­der­taler einen Löwenkult besaß.

Auf­grund der Nähe der Fun­dorte und der anzunehmenden kon­stan­ten religiösen Ideen­zusam­men­hänge über sehr lange Zeiträume gehe ich davon aus, dass diese bei­den Fig­uren zusam­men betra­chtet wer­den müssen, dass sie sich in ihren Aus­sagen ergänzen. Der Löwen­men­sch scheint mir der männliche, die Venus­fig­urine der weib­liche Aus­druck ein­er einzi­gen Grun­didee zu sein.

Die Venus­fig­urine zeigt tief­ste Unbe­wuss­theit. Ihr Bewusst­sein ist voll­ständig nach innen gerichtet. Der Löwen­men­sch sieht. Sein Kopf ist son­nen­hell, doch hat er kein men­schlich­es Bewusst­sein, son­dern ein Löwen-Bewusst­sein. Er ist über den für den Men­schen typ­is­chen Zweifel hin­aus­gewach­sen und hat die allen Tieren eigene unum­stößliche Instinkt-Sicher­heit gewon­nen. Er hat das Ziel der Bewusst­sein­sen­twick­lung erre­icht. Gle­ichzeit­ig schaut er nach oben und ist auf etwas Höheres, sich über ihm befind­en­des aus­gerichtet. Er scheint diesem Höheren lauschend hingegeben zu sein.

Die Idee hin­ter den weib­lichen Fig­uri­nen zeigt die Venus von Wil­len­dorf am deut­lich­sten (siehe Blog 46 u und hier). Ihr Kör­p­er — und auch die Kör­p­er der anderen Venus­fig­uri­nen — zeigen einen Jahreskreis. Das Som­mer-Hal­b­jahr ist durch die Brüste dargestellt, das Win­ter-Hal­b­jahr durch die Schenkel. Sie ist die große Göt­tin, die alles Leben trägt. Kein Lebe­we­sen kann aus der Zeit her­aus­fall­en — alle wer­den in ihrem Leib von Moment zu Moment, von Tag zu Tag getra­gen. Jedes Lebe­we­sen ist ihr Kind, mit dem sie schwanger geht, solange sein Leben währt. Diese große Göt­tin ist die zyk­lis­che, sich unendlich wieder­holende Zeit.

Doch das zyk­lis­che Erleben der Zeit ist nicht das einzige. Die Zeit wird neben ihrem zyk­lis­chen Aspekt auch als ein lin­ear fließen­der Fluss erlebt, in dem jed­er Augen­blick einzi­gar­tig und unwieder­bringlich ist. Gemäß Rudolf Stein­er fließt dieser Zeit­fluss als Dop­pel­strom und speist sich sowohl aus der Ver­gan­gen­heit als auch aus der Zukun­ft. Aus diesem Zeit­strom hebt sich die Gegen­wart her­aus. Diese Gegen­wart wird erleb­bar, weil der Men­sch und auch die Tiere Bewusst­sein entwick­eln. Doch nur der Men­sch hat über das Bewusst­sein hin­aus Selb­st­be­wusst­sein. Er erlebt sich als ein Ich, das der Welt wahrnehmend gegenüber steht.

Die lin­eare Zeit erblicke ich im Löwen­men­schen. Er hat Füße zum Gehen eines lin­earen Weges und seine Gestalt nähert sich der Lin­ie. Durch seinen Löwenkopf bringt er das Licht des ausstrahlen­den Bewusst­seins ins Bild, durch seine scheiben­för­mi­gen Augen das Sehen, das ein Gegenüber­ste­hen voraus­set­zt. Der Löwen­men­sch verkör­pert damit auch die Gegen­wär­tigkeit, die sich aus der lin­earen Zeit heraushebt.

Den Gegen­satz von Venus­fig­urine und Löwen­men­sch finde ich in der indis­chen Samkhya-Philoso­phie wieder. Hier wird die Welt auf zwei ewige Prinzip­i­en zurückgeführt:

  1. Die unbe­wusste, aktive Urnatur Prakri­ti – ewiger Wandel
  2. Der ewige Geist, Purusha ist seinem Wesen nach reines Bewusst­sein, ein ewiges Sub­jekt, das nie Objekt wer­den kann. Es erfreut sich an dem Spiel der sich ent­fal­tenden Prakriti.

Aus dem Zusam­men­wirken dieser bei­den Urprinzip­i­en entste­ht das inkarnierte Bewusst­sein indi­vidu­eller Lebewesen.

  1. Die unendliche Vielzahl der geistig bewussten, indi­vidu­ellen Geist­mon­aden, — die in der Zeit leben­den Wesen

In Pakri­ti, der im ewigen Wan­del befind­lichen Urnatur lässt sich der Zeit­en­leib der großen Göt­tin, die zyk­lis­che Zeit erkennen.

In Purusha, dem ewig gegenüber­ste­hen­den Geist lässt sich die lin­eare Zeit mit der Möglichkeit zur Gegen­wär­tigkeit erken­nen, wie sie der Löwen­men­sch darstellt.

Aus bei­den Urprinzip­i­en zeugt sich das men­schliche Bewusst­sein, die begren­zte Gegen­wär­tigkeit. Der Men­sch ist Müt­ter­lich getra­gen im Zeit­en­leib der Großen Göt­tin, mit dem Ursprung ver­bun­den durch die zyk­lis­che Zeit. Und er ist auf dem Weg zum Vater, auf dem Weg reines Bewusst­sein zu wer­den, mit dem Ziel ver­bun­den durch die lin­eare Zeit

Der Ur-Gegen­satz von Geist und Materie der Samkhya Philoso­phie lässt sich im Löwen­men­schen und der Venus­fig­urine wiederfinden

Das Licht aus Wel­tenweit­en (22 V) ist Welt-Licht und durch die Weit­en des Umkreis­es scheint es mir auf die zyk­lis­che Zeit zu deuten. Das Licht aus Geis­testiefen (31 e) ist ein im Men­schen auf­steigen­des Geist-Licht, das ich mit der lin­earen Zeit und der Gegen­wär­tigkeit ver­bun­den denke.

Im Blog-Artikel 22 V kon­nte ich zeigen, dass es sich beim Licht aus Wel­tenweit­en um das aus dem Umkreis kom­mende, moralis­che Impulse in den Willen tra­gende Astral­licht han­delt, im Blog-Artikel 31 e um das durch die Ätheri­sa­tion des Blutes aus den Tiefen der Leib­lichkeit auf­steigende Bewusst­seinslicht. Im Löwen­men­schen ist bildlich-wesen­haft das sich erheben­den Bewusst­seinslicht dargestellt, das jeden Moment erstirbt und neu entste­ht und damit den lin­earen Aspekt der Zeit her­vor­bringt. In der Venus­fig­urine ist das aus dem Umkreis stam­mende Moral­licht, das den Tat­en der Gegen­wart karmis­che Kon­se­quen­zen fol­gen lässt und das Gewe­sene bleibend macht. Diesem Licht entspricht der zyk­lis­che Aspekt der Zeit.

Zusammenschau der vier Lichtsprüche

Im See­lenkalen­der gibt es vier soge­nan­nte Licht­sprüche. Die hier betra­chteten spiegel­nden Mantren 22 V und 31 e beschreiben die Lichtquellen sel­ber, die anderen bei­den Licht­sprüche 5 E und 48 w beschreiben das Beleuchtete. Ein Zweifach­es drück­en die vier Licht­sprüche in der Zusam­men­schau aus.

Das Licht als Weg

Die Licht­sprüche 22 V — 31 e — 5 E — 48 w zeigen einen Weg des Licht­es, der mit dem Licht aus Wel­tenweit­en (22 V) begin­nt und im Men­schen­herzen (48 w) endet.

Der Weg des Licht­es vom Umkreis ins Zentrum

Dieses Licht als Moral­licht ver­standen schenkt durch den notwendig gewor­de­nen Aus­gle­ich Zukun­ft und damit Leben. Es führt den Zeit­strom aus der Ver­gan­gen­heit in die Zukun­ft. Es gebiert und trägt müt­ter­lich neues Leben. Während des Schlafs strömt dieses Licht vom Umkreis in den Men­schen ein und bewirkt die Regeneration.

Das Licht als zwei Lich­tach­sen, als zwei Bäume

Polar dazu ver­hält es sich mit dem Licht aus Geis­testiefen (31 e). Dieses Licht steigt im Men­schen auf durch die Ätheri­sa­tion des Blutes, durch abster­ben­des Leben. Es entste­ht, weil das Leben sich aus der Materie befre­it. Die aus der Zukun­ft in die Gegen­wart wirk­enden Kräfte des Todes schenken dieses Licht und ermöglichen dem Men­schen Eigen­licht. Durch das jedem Men­schen geschenk­te eigene Bewusst­sein ist dieses Licht ein indi­vid­u­al­isieren­des Licht. Es stellt den Men­schen als Mikrokos­mos dem Makrokos­mos gegenüber. Es ist ein väter­lich­es Licht, das den Men­schen zum Nachkomme des Makrokos­mos, zum “Sohn” macht.

Das Licht aus Geis­testiefen tritt nicht nur im Mantra 31 e auf, son­dern auch im Gegen­spruch, dem Licht­spruch 5 E. Dieses Licht gehört zur unge­broch­enen Lich­tachse. Das andere Paar der Licht­sprüche han­delt dage­gen von unter­schiedlichen Lichtern und zwar 22 V vom Licht aus Wel­tenweit­en; 48 w vom Licht aus Wel­tenhöhen. Diese Mantren sind wegen des unter­schiedlichen Buch­stabens keine Gegen­sprüche. Diese Lich­tachse nenne ich deshalb die “gebroch­ene” Lichtachse.

Die Lich­tach­sen als Baum des Lebens und Baum der Erkenntnis

Jed­er Licht­spruch gehört zu ein­er Drei­heit aus: Krisen‑, Zwis­chen- und Licht­spruch. Diese drei Mantren the­ma­tisieren jew­eils ein Ele­ment, das sie verbindet. Für die Mantren 20 T, 21 U, 22 V ist es z.B. das Feuer, die Wärme. Mit jedem dieser vier Ele­mente wird auf eine Ätherkraft gedeutet: das Feuer weist auf den Wärmeäther, die Luft auf den Licht-Äther, das Wass­er auf den chemis­chen oder Klang-Äther und die Erde auf den Lebensäther.

Die obige Unter­schei­dung der Lich­tach­sen bestätigt sich durch die vier Äther. Wärme- und Licht-Äther nen­nt Rudolf Stein­er die unteren Äther­arten, den Baum der Erken­nt­nis. Jed­er Men­sch ver­fügt über eigene Kör­per­wärme und eigenes Erken­nt­nis­licht. Das ist die gebroch­ene Lich­tachse. Sie ist durch die zwei Welt-Lichter charak­ter­isiert. Die unge­broch­ene Lich­tachse, die Achse des Geistlicht­es, verbindet Lebens- und chemis­chen Äther, die Rudolf Stein­er die oberen Äther­arten, den Baum des Lebens nen­nt. Diese Äther­arten sind überindi­vidu­ell-men­schheitlich. Im Paradies wuch­sen diese bei­den Bäume eng ver­schlun­gen und auch in der Zukun­ft sollen sie sich wieder vereinen.

In der Gen­e­sis heißt es: “Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Mor­gen, und set­zte den Men­schen drein, den er gemacht hatte.
Und Gott der Herr ließ aufwach­sen aus der Erde aller­lei Bäume, lustig anzuse­hen, und gut zu essen, und den Baum des Lebens mit­ten im Garten und der Baum der Erken­nt­nis des Guten und Bösen. (Gen­e­sis 2, 8–9)

Marie Stein­er notierte eine Aus­sage Rudolf Stein­ers: „Als Seth das Paradies nach dem dop­pel­ten Sün­den­fall (Evas und Kains) wieder betreten hat­te, sah er, wie der

Baum der Erken­nt­nis und der Baum des Lebens
sich vere­inigt hatten.

Baum der Erken­nt­nis bedeutet men­schlich­es Wissen.
Baum des Lebens bedeutet gott-geof­fen­barte Weisheit.“ (Lit.: GA 265, S. 342)

Das Kreuz der Licht­sprüche schenkt uns ein Bild dieser Bäume.

Für mich ste­hen diese bei­den Bäume auch für die bei­den Bilder der Zeit. Die zyk­lis­che Zeit erlaubt es dem Men­schen, den Wech­sel der Jahreszeit­en vorauszuwis­sen. Sie schenkt men­schlich­es Wis­sen durch Erfahrung, sie ist Welt-Licht. In der lin­earen Zeit ist die Zukun­ft nicht vorher­sag­bar. Was in der Gegen­wart geschieht, ist von Gott geof­fen­barte Weisheit, sie ist Geist-Licht.

Der Kreuzungspunkt bei­der Lich­tach­sen scheint mir auf die Fähigkeit zur Gegen­wär­tigkeit zu deuten, auf den Funken, der aus den polaren Gegen­sätzen entspringt.

Über die spiegelnden Lichtsprüche 22 V und 31 e

Die Mantren 22 V und 31 e sind das Licht­spruch-Paar, das die Lichtquellen the­ma­tisiert. Das andere Licht­spruch-Paar 5 E und 48 w han­delt vom Beleuchteten. Wie alle Licht­sprüche sind auch diese in der beschreiben­den drit­ten Per­son ver­fasst ohne einen bewussten, die Sit­u­a­tion reflek­tieren­den Ich-Sprech­er. Die Mantren weisen ganz beson­ders viele gram­ma­tis­che Entsprechun­gen auf und auch sehr viele iden­tis­che Satzteile. Sie weisen dadurch auf The­men, die eng miteinan­der ver­bun­den sind.

Das Licht im Mantra 22 V ist ein Welt-Licht, das Licht im Mantra 31 e ist ein Geist-Licht. Damit ste­ht sich der Ur-Gegen­satz von Materie und Geist gegenüber. Da es bei­de Male um Licht geht, so ist beim Welt-Licht die geistige Seite der Materie gemeint. Da Materie vom lateinis­chen mater, Mut­ter stammt, kann angenom­men wer­den (philol­o­gisch gedacht), dass das Welt-Licht weib­lich-her­vor­brin­gen­den Charak­ter hat. Geist wird dage­gen (eth­nol­o­gisch gedacht) z.B. in Märchen durch männliche Fig­uren ausgedrückt.

Das Welt-Licht kommt von Außen, aus Wel­tenweit­en, aus dem Umkreis — dem Makrokos­mos. Das Geist-Licht kommt aus Geis­testiefen, dem eige­nen Inneren — dem Mikrokos­mos. Nun fol­gen in bei­den Mantren vier weit­ere Schritte, was dieses Licht jew­eils tut bzw. wie es sich ver­wan­delt. Zum Schluss, im fün­ften Schritt, erfährt der Leser das große Warum, das Ziel des jew­eili­gen Prozesses.

Nach der Aus­gangslage fol­gt der erste Schritt: Das Welt-Licht (22 V) ist aus Wel­tenweit­en ins Innere gezo­gen und lebt dort kräftig fort. Das Licht aus Wel­tenweit­en war also schon in seinem Ursprung Leben. Nun lebt es im Men­schen Innern und dieses Leben ist kräftig, voller Kraft – jung und früh­ling­shaft. Das Geist-Licht (31 e) ist im Ursprung innen und strebt nun nach außen. Son­nen­haft von einem Mit­telpunkt in alle Rich­tun­gen strahlt dieses Geist-Licht, ver­strahlt und ver­schenkt sich – wie die Natur im Herb­st. Dieses Licht lebt nicht wie ersteres, es strebt – es hat ein Ziel.

In bei­den Mantren fol­gt nun ein Dop­pelpunkt. Er markiert eine Gren­ze, denn was nun als zweit­er Schritt fol­gt, ist jew­eils eine Ver­wand­lung des Licht­es. Das aus den Weit­en stam­mende und ins Innere gezo­gene, lebensvolle Welt-Licht (22 V) wir zum See­len­licht. Das aus der Tiefe stam­mende und nach außen strahlende, son­nen­hafte Geist-Licht (31 e) wird zur Lebenswil­len­skraft. Eine „Überkreuzung“ der Lichter find­et hier statt: das Welt-Licht war das kräftig lebende Licht, das nun Seelen‑Licht wird — das Geist-Licht war das nach außen strahlende, also vom See­lenin­nen­raum ausstrahlende Licht, das nun Lebenswil­len­skraft, kraftvoller Wille zum Leben, — auch Lebens-Licht genan­nt — wird. Durch diesen Schritt wer­den bei­de Lichter zu indi­vidu­ellen Lichtern. Sowohl das See­len­licht als auch die Lebenswil­len­skraft sind nicht mehr all­ge­mein­er, bzw. men­schheitlich­er Natur. Sie sind indi­vidu­ell gewor­den, sie sind das See­len­licht und die Lebenswil­len­skraft eines einzel­nen, indi­vidu­ellen Menschen.

Diese jew­eils indi­vidu­ell gewor­de­nen Lichter leucht­en jet­zt im drit­ten Schritt dor­thin, wo das jew­eils andere Licht herkam. Das Licht aus Wel­tenweit­en (22 V) leuchtet als See­len­licht in die Geis­testiefen, von denen das Geist-Licht (31 e) kam. Das Licht aus Geis­testiefen (31 e) leuchtet als Lebenswil­len­skraft in die Dumpfheit der Sinne, mit denen der Men­sch die Wel­tenweit­en wahrnimmt.

Nun wird im vierten Schritt in bei­den Mantren das Ziel des Licht-Prozess­es genan­nt, das übere­in­stim­mend ent­bun­den, also von dem bish­eri­gen abgelöst wer­den soll. Im Mantra 22 V sollen durch das in die Geis­testiefen leuch­t­ende See­len­licht Früchte ent­bun­den wer­den. Im Mantra 31 e sollen durch die in die Dumpfheit der Sinne leuch­t­ende Lebenswil­len­skraft Kräfte ent­bun­den wer­den. Das See­len­licht führt zu Frücht­en, die Lebenswil­len­skraft zu Kräften. Die Ur-Frucht ist der Apfel aus der Paradies­geschichte. Er hat eine kugelig runde Form und bildet damit eine kleine, mit Sub­stanz erfüllte Wel­tenweite (22 V). In den Frücht­en hat sich das Licht aus Wel­tenweit­en eine Vielzahl von Abbildern geschaf­fen – nun nicht als Negativ‑, son­dern als Pos­i­tiv-For­men. Die Kraft des Lebenswil­lens bringt dage­gen Vervielfachun­gen von sich selb­st her­vor – Kräfte eben, die ent­bun­den, frei wer­den sollen.

Als fün­ften Schritt erfährt der Leser jew­eils das über­ge­ord­nete Ziel, das sowohl bei den Frücht­en (22 V) als auch bei den Kräften (31 e) ein Rei­fung­sprozess ist. Dadurch wird der jew­eilige Licht-Prozess in einen größeren Zusam­men­hang ein­ge­ord­net. Die zu ent­binden­den Früchte lassen das Men­schenselb­st aus dem Wel­tenselb­st im Zeit­en­lauf reifen (22 V). Die zu ent­binden­den Kräfte lassen die Schaf­fens­mächte aus den See­len­trieben im Men­schen­werk reifen (31 e).

Die zu ent­binden­den Früchte (22 V) tra­gen also Rei­fungszyk­lus für Rei­fungszyk­lus — Jahr für Jahr und Inkar­na­tion für Inkar­na­tion — bei, dass das Men­schenselb­st aus dem Wel­tenselb­st reift. Das Men­schenselb­st ver­ste­he ich als das Geist­selb­st, als das aus dem Astralleib sich entwick­el­nde rein geistige Wesens­glied. Es reift aus dem Wel­tenselb­st, das ich mir als Verur­sach­er des Licht­es aus Wel­tenweit­en denke.

Die zu ent­binden­den Kräfte (31 e) bewirken also, dass Schaf­fens­mächte – Schöpfer­kom­pe­ten­zen, Schöpfer­kräfte – aus Trieben der Seele im Men­schen­werk reifen. Ein Schöpfer ist jemand, der mit den Kräften des Lebens­geistes, des umge­wan­del­ten Äther­leibes wirken kann. Das Men­schen­werk ist das Werk des Men­schen. Sein größtes Werk ist es, aus eigen­er Kraft — durch sein Ich — die niederen Wesens­glieder in die höheren umzuwan­deln – sich als Geist­men­schen zu erschaf­fen. Dieser Geist­men­sch reift aus den See­len­trieben, den zu läutern­den Trieben der Seele. Die Voraus­set­zung für diesen Reife­prozess ist das Ich-Bewusst­sein des Men­schen. Dieses Bewusst­sein, mit dem sich der Men­sch als Ich erfasst, hat er durch den aus Geis­testiefen auf­steigen­den Strom seines inneren Licht­es — seines Bewusstseins.

Der Fün­f­stern ist die Form des Men­schen. Bei­de Mantren lassen sich als eine geschlossene Durchge­hung des Pen­ta­gramms lesen.

         

Die spiegel­nden Licht­sprüche 22 V und 31 e als Pentagramm

(Die Num­mern beze­ich­nen die jew­eilige Zeile)

Das Licht aus Wel­tenweit­en (22 V), das aus dem Umkreis ein­strahlende Leben, führt über das See­len­licht zu Frücht­en, die Men­schenselb­st aus Wel­tenselb­st reifen lassen. Die Venus­fig­uri­nen zeigen den Zeit­en­leib der großen, alles her­vor­brin­gen­den Mut­tergöt­tin, in deren Leib stets alles Leben ruht. Nie­mand kann aus der Zeit her­aus­fall­en, solange er lebt. In ihr reifen die Früchte. Sie ist das Wel­tenselb­st, aus dem das Men­schenselb­st her­aus reift. Der Schritt der Geburt, das Her­aus­treten aus dem Zeit­en­leib bedeutet physisch zu sterben.

Das Licht aus Geis­testiefen (31 e), das aus dem Leben sich befreiende, strebende, son­nen­hafte Bewusst­sein, führt dazu, dass mit dem indi­vidu­ellen Bewusst­sein auch das Leben als ein eigenes wahrgenom­men wird. Hier ste­ht der Löwen­men­sch, die Verkör­pe­rung der lin­earen Zeit, die Einzi­gar­tigkeit jedes Augenblicks.

Die aus der Tiefe auf­strebende Licht-Kraft des Indi­vidu­ums wird Lebenswil­len­skraft, zur Kraft, das eigene Leben zu bewahren. Die Lebenswil­len­skraft leuchtet in die Sinne. Rudolf Stein­er nen­nt diese Kraft “Begehren” im Unter­schied zur urteilen­den Denk-Tätigkeit, die auf den Sin­ne­sein­druck fol­gt: „Das andere, was zum See­len­leben gehört, das Urteilen, wird ger­ade beim unmit­tel­baren Sin­neser­leb­nis aus­geschal­tet. Da macht sich das Begehren, das Hingebende und Exponierende der Seele gegenüber den äußeren Ein­drück­en allein gel­tend. Ein Sin­ne­sein­druck ist ger­ade dadurch charak­ter­isiert, daß die Aufmerk­samkeit bei ihm so hin­ge­ord­net ist, daß die Urteils­fäl­lung als solche aus­geschal­tet wird. Wenn sich die Seele dem Rot oder irgen­deinem Ton exponiert, lebt in diesem Exponieren nur Begehren, und die andere See­len­tätigkeit, das Urteilen, wird in diesem Falle aus­geschal­tet, unter­drückt.“ (GA 115, S. 160) Dieses Kraft-Licht will also die einge­tretene Spal­tung in Indi­vidu­um und Umwelt über­winden, indem das Licht in die Sinne leuchtet. Ohne dieses Licht wären die Sinne dumpf, unfähig zur Wahrnehmung. Nicht erst der Wahrnehmungs­ge­gen­stand, auch schon die Sinne sel­ber gehören laut Rudolf Stein­er der Welt an. Er schreibt im 171. Leit­satz: „Die men­schliche Sin­nesor­gan­i­sa­tion gehört nicht der Men­schen-Wesen­heit an, son­dern ist von der Umwelt während des Erden­lebens in diese hineinge­baut. Das wahrnehmende Auge ist räum­lich im Men­schen, wesen­haft ist es in der Welt. Und der Men­sch streckt sein geistig-seel­is­ches Wesen in das­jenige hinein, was die Welt durch seine Sinne in ihm erlebt. Der Men­sch nimmt die physis­che Umge­bung während seines Erden­lebens nicht in sich auf, son­dern er wächst mit seinem geistig-seel­is­chen Wesen in diese Umge­bung hinein.“ (Lit.: GA 26, S. 236)
Durch diesen Prozess der Welt-Verbindung wer­den Kräfte ent­bun­den, die die indi­vidu­elle Seele mit ihren Trieben reifen lassen. Aus den instink­thaften See­len­trieben sollen bewusst hand­hab­bare Schaf­fens­mächte wer­den. Diese Schaf­fens­mächte sind enthal­ten im Men­schen­werk. Das scheint ein Wider­spruch zu sein. Das Werk, das gle­ichzeit­ig Schaf­fen­skräfte enthält ist das schöpferische Wort. Entsprechend der großen Mut­ter im Mantra 22 V geht es hier um die schöpferisch-zeu­gende Vaterkraft. Es geht um die Gestal­tung zukün­fti­gen Lebens aus dem Geist, dem Geist-Licht.