39 n
An Geistesoffenbarung hingegeben
Gewinne ich des Weltenwesens Licht.
Gedankenkraft, sie wächst
Sich klärend mir mich selbst zu geben,
Und weckend löst sich mir
Aus Denkermacht das Selbstgefühl.
Das Datum des Jahreswechsels und der Name Silvester
Das Jahresende, das wir heute Silvester nennen, wurde bereits im Römischen Reich gefeiert, erstmals als der Jahresbeginn 153 v. Chr. vom 1. März auf den 1. Januar verlegt wurde. Es war eine römische Sitte, das Jahr nach dem zehnten Monat, dem Monat Dezember (lateinisch decem = zehn) neu zu beginnen, denn in diesem Monat wurde das Fest der unbesiegten Sonne, Sol invictus, die Winter-Sonnenwende gefeiert. Seinen Namen “Silvester” (Waldmensch, lateinisch silva = Wald) erhielt der letzte Tag des Jahres erst 1582 mit der Gregorianischen Kalenderreform. Bis dahin war der 24. Dezember der letzte Tag des Jahres. Da der 31. Dezember der Todestag von Silvester I. († 31. Dezember 335) und seit 812 auch sein Namenstag ist, wurde dieser Tag mit seinem Namen verbunden.
39 n — das Schwellen-Mantra des Winter-Halbjahres
So wie der Tag des Heiligen Abends immer in der Woche 38 m liegt, ist Silvester immer in der Woche 39 n. An Silvester stehen wir vor der Schwelle zum neuen Jahr. In den meisten Jahren reicht die Woche mehr oder weniger in das neue Jahr hinein. Die Jahre 2023 und 2022 zeigen die Extremsituationen. Im Jahr 2022 geleitete uns das Mantra 39 n nur bis zur Schwelle, denn Silvester fiel auf einen Samstag. Im Jahr 2023 ist Silvester ein Sonntag und damit der Beginn der Woche 39 n, deren größter Teil im neuen Jahr liegt.
Das Mantra 39 n ist das 13. Mantra im 26 Mantren umfassenden Winter-Halbjahr und steht damit vor dem Scheitelpunkt dieses Halbkreisbogens. Beschreibt das Herbst-Vierteljahr den Abstieg in die eigene Seele, so sind wir mit dem letzten Mantra dieses Viertels am Grund der Seele angekommen. Was danach folgt wendet sich wieder zum Aufstieg.
So wie mit dem entsprechenden Mantra im Sommer-Halbjahr (14 N) ist auch mit dem Schwellen-Mantra des Winter-Halbjahres (39 n) eine Besonderheit verbunden, die sich im Aufbau des Seelenkalenders zeigt. Was sich sonst auf zwei korrespondierende Mantren aufteilt, fällt hier in eins: Das zum Mantra 39 n grammatikalisch spiegelnde Mantra 14 N trägt außerdem den gleichen Buchstaben und ist dadurch sowohl Spiegel- als auch Gegenspruch. Lebt die Seele fühlend im gegenwärtigen Spruch, ist mit dem Spiegelspruch insbesondere das Denken verbunden, mit dem Gegenspruch der Wille. Denken und Wille verbinden sich in diesem Fall im Mantra 14 N. Und das gleiche geschieht, wenn wir im Sommer-Halbjahr sind mit dem Mantra 39 n. Aus diesem Grund nenne ich die Mantren 14 N und 39 n Schwellensprüche.
Das Zusammenwirken von Denken und Wille nennt Rudolf Steiner eine der Voraussetzungen, um die Schwelle zur geistigen Welt zu überschreiten: “Denkübungen auf der einen Seite, Willensübungen auf der anderen Seite muß man machen, wenn sich das Tor öffnen soll zur übersinnlichen Welt, in die wir eintreten müssen, wenn wir uns unsererseits, als Menschen, nach unserem Ewigen erkennen wollen, und wenn wir die Welt nach dem Ewigen erkennen wollen. Die Denkübungen, sie werden gerade dadurch vollzogen, daß wir uns darauf besinnen, wie immer Willensartiges in das Denken hineinspielt; die Willensübungen, indem wir das Hineinspielen des Denkens in den Willen beachten. Nur im gewöhnlichen Leben beachten wir dieses Willensartige nicht. Um zur modernen Initiation zu kommen, müssen wir gerade den leisen Willen, der in dem Vorstellungsleben darinnen ist, beachten. Das müssen wir nach und nach erreichen durch die Übungen, die ich beschrieben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Das ist es gerade, was ich hier andeuten will: Wir müssen das, was für gewöhnlich gerade das Wichtigste ist, den Gedankeninhalt zurücktreten lassen und den Willen im Denken bewußt gebrauchen lernen.” (Lit.: GA 211, S. 144)
Des Weltenwesens Licht
Im Mantra 39 n wird von dem zu gewinnenden Licht gesprochen. Dieses Licht entstammt dem Weltenwesen und wird durch Geistesoffenbarung gewonnen. Um welches Weltenwesen handelt es sich hier? Rudolf Steiner führt dazu folgendes aus und benutzt tatsächlich gegen Ende des Zitats auch den Begriff “Weltenwesenheiten” für die im Kosmos wirkenden Instanzen des Weltenwillens, Weltenfühlens und Weltendenkens. Das Weltenfühlen wird im Menschen zum inneren Licht. Vorher spricht er vom Weltenwillen, nachfolgend vom Weltendenken. Der Vollständigkeit halber zitiere ich die Ausführungen zu allen drei kosmischen Seelenfähigkeiten.
„Wenn wir nun aber des Morgens … aufwachen, … wo wir an dem Hüter der Schwelle vorbeigekommen sind, dann merken wir, daß alles dasjenige, was wir in unserem Leben an Willen, an Gefühl, an Denken in uns entwickeln können, eine Kleinigkeit ist gegenüber der Kraft der Gedanken, der Kraft des Fühlens und der Kraft des Wollens, die in der geistigen Welt ausgebreitet sind, aus der wir am Morgen herauskommen im Moment des Aufwachens; und wir merken, daß wir das brauchen, was wir in der Nacht eingesogen haben, denn wir würden nicht weit kommen, wenn wir nur dasjenige an Gedanken und Gefühlen und an Wollen entwickelten, was wir durch das Tagesleben entwickeln können. Da muß uns wie eine Gabe aus geistigen Welten, aus den höheren Kräften des Weltendenkens, des Weltenfühlens, des Weltenwollens die ganze Nacht über zuströmen dasjenige, was nun mit uns in unser eigenes Innere hinuntersteigt. Wenn wir uns zuerst bewußt geworden sind, daß wir eingesogen haben in unsere Seele Weltenwollen, Weltenfühlen, Weltendenken, dann merken wir, daß diese drei Grundkräfte nicht dasjenige sind, was wir uns selber aus dem Leben angeeignet haben an Denken, Fühlen und Wollen, sondern etwas, was ohne unser Zutun uns zuströmt vom Einschlafen bis zum Aufwachen.
Indem wir mit unserer Seele, die sich gleichsam vollgesogen hat mit diesen Eigenschaften, untertauchen in unsere eigene Leiblichkeit, merken wir, daß sich diese Grundkräfte verwandeln und ein anderes Gesicht bekommen. Und zwar merken wir, daß sich dasjenige, was wir in einem schwachen Abbilde als Willen unserer Seele kennen, was wir uns aber mitbringen aus einem unendlich viel größeren Maß von Weltenwillen, daß sich das im Einströmen verwandelt in etwas, was uns die Möglichkeit gibt, bewegliche Wesen zu sein, die aus ihrem Inneren heraus die Fähigkeit haben, die Glieder zu bewegen, im kleinen und im großen. Es strömt in uns ein die Möglichkeit und die Fähigkeit, die wir äußerlich zutage treten sehen, wenn wir einen Menschen sehen, der die Arbeit des Tages mit seinen Bewegungen verrichtet. Was da in uns hineinströmt, was wir aus dem Weltenwillen herausnehmen, das wird äußerlich sichtbar in der Bewegung unserer Glieder, in unserer gesamten Beweglichkeit. Es kommt dasjenige, was Weltenwille ist, in uns als Kraft, als innere, uns erfüllende Kraft zum Vorschein. Wir sehen jetzt, wie tatsächlich die uns durchsetzende Kraft, die wir sonst nur seelenhaft verspüren, uns aus dem Weltenwillen heraus zuströmt. Jetzt wird es für uns eine Wahrheit, daß Wille die Welt durchströmt, daß der Wille der Welt uns durchströmt, und daß wir nur dadurch bewegliche Menschen sind, Menschen, die ihre Glieder bewegen können, Menschen, die Selbsttätigkeit haben, daß uns am Morgen zufließt Weltenwille, den wir eingesogen haben in unsere Seele im Schlafzustand. Diesen Weltenwillen, der in uns einströmt am Morgen, verbrauchen wir während des Tages. Dieses Einströmen fühlen wir nicht im gewöhnlichen normalen Leben. Aber wenn wir an dem Hüter der Schwelle vorbeigekommen sind, dann fühlen wir fortwirken in uns selber den ganzen Willen des Makrokosmos, da fühlen wir uns einheitlich mit dem Weltenwillen zusammengewachsen. Es ist ein unendlich bedeutsames Gefühl, das wir da durchmachen. Wie verbunden, wie eingeschaltet in den gesamten Weltenwillen fühlen wir uns in diesem Momente.
Dasjenige aber, was wir im gewöhnlichen Seelenleben kennen als die Kraft des Fühlens, das haben wir aus einem gleichsam unendlichen Reservoir von Weltenfühlen herausgesogen, und das strömt jetzt in uns ein. Und das verwandelt sich so, daß es für den, welcher so weit entwickelt ist, innerlich so sichtbar wird, wie wenn ihn in diesem Weltengefühl etwas durchströmte, was sich, wenn man es vergleichen will mit etwas im Leben, nur vergleichen läßt mit dem Licht. Wie wenn wir innerlich durchleuchtet würden, so ist es, wenn man hinblickt auf das, was in uns einströmt als die Wirkung des im Schlafe aufgenommenen Weltengefühls. Das einströmende Weltengefühl wird Licht in uns, inneres Licht; äußerlich ist es nicht sichtbar, aber der hellseherisch gewordene Mensch sieht, wenn er an dem kleinen Hüter der Schwelle vorbeigekommen ist, daß tatsächlich das Licht, das er braucht zu seinem inneren Erleben, das nichts anderes ist als ein Ergebnis dessen, was er in der Nacht eingesogen hat als Weltengefühl. Damit sehen wir schon, wie der Mensch, wenn er hingegeben ist seinem eigenen Inneren, über seine Seele etwas ganz Neues erfährt. Er erfährt, was aus dem Makrokosmos ihm zuströmt und was daraus in seinem Inneren wird. Und man hat dasjenige, was astralischer Leib ist, wahrhaftig und wesenhaft vor sich, wenn man die Kräfte und Fähigkeiten der äußeren Weltenwesenheiten in sich einströmen fühlt.
Das, was die Kraft des Denkens ist, das nimmt sich dann so aus, daß es in uns wie ein Ordner, wie ein Regulator wirkt zwischen dem, was uns als Kraft der Bewegung, und dem, was uns als inneres Licht zuströmt. Zwischen diesen beiden muß eine Art Gleichgewicht geschaffen werden, daß niemals ein unrichtiges Verhältnis entsteht zwischen dem, was als inneres Gefühl und was als Tätigkeitsdrang entsteht. Würde nicht das richtige Verhältnis geschaffen sein zwischen innerem Licht und Tätigkeitsdrang, so würde die menschliche Leiblichkeit nicht in der richtigen Weise von innen heraus versorgt werden. Wenn das eine oder das andere im Überfluß vorhanden wäre, dann müßte der Mensch zugrunde gehen. Nur beim richtigen Gleichgewicht kann der Mensch seine inneren Kräfte so entfalten, daß sie seiner äußeren Existenz in der richtigen Weise dienen.
So sehen wir diese drei Kräfte am Menschen im Schlafzustande arbeiten, und sie wirken so in uns fort, daß sie unseren äußeren Menschen vom Morgen bis zum Abend so anfeuern, daß er vollbringen kann, was er vollbringen soll. Wenn wir dies ins Auge fassen, dann können wir uns sagen, es ist in der Tat unsere Seele recht klein gegenüber dem, was da in der großen Welt ist, in die wir ausgegossen waren während des Schlafzustandes; aber es ist unsere Seele dem doch ähnlich. So wie in unserer Seele sich nach und nach zu immer höherer und höherer Stufe entwickeln Denken, Fühlen und Wollen, so ist draußen in der unsichtbaren, übersinnlichen Welt das ausgegossen, was Weltenfühlen, Weltendenken, Weltenwollen ist.” (GA 119, vierter Vortrag Wien, 24. März 1910, S. 113ff, Hervorhebungen A.F.)
Der Jahreslauf in der Ei-Orientierung gibt eine Idee für ein einheitliches wollendes, fühlendes und denkendes Weltenwesen. Die Personifizierung ist die Maria auf der Mondsichel, die das Kind trägt. Der Zusammenhang des Fühlens mit dem Licht wird durch das sonnengleiche Zentrum des Jahreslaufes deutlich, der zur Bewegung führende Weltenwille durch die bewegliche Osterscholle. Stellt die Osterzeit den Mond, d.h. den Willen im Jahr dar und das Zentrum des Jahreskreises die Sonne, d.h. das Fühlen, so verdeutlich das oberste Drittel mit dem von mir gewählten Sechsstern das Denken. Seine Aufgabe ist es, die Kraft der Bewegung, den Willen und das innere Licht, das Fühlen zu ordnend zu regulieren. Die zwei ineinander geschobenen Dreiecke repräsentieren diese ordnende Tätigkeit des Denkens stimmig.
Jahreslauf in Ei-Orientierung mit der Maria auf der Mondsichel und den drei Bereichen des Weltendenkens, Weltenfühlens und Weltenwollens
Ein zweiter Aspekt ist das Verhältnis der äußeren Sonne zu dieser inneren, was Rudolf Steiner folgendermaßen schildert: „Im äußeren Bewusstsein schaut der Mensch das äußere Sonnenlicht an, wie es ihm zurückgeworfen wird von der äußeren Erde. Was das äußere Sonnenlicht äußerlich an den Dingen der Erde tut, das nimmt das äußere, das alltägliche Bewusstsein des Erdenmenschen wahr. Was das Sonnenlicht an ihm selber tut, was es tut, indem es seinen mittleren Menschen möglich macht, was es tut, indem es hineindringt in den mittleren Menschen mit seiner Wirksamkeit, das erscheint als flutendes Licht vor dem Menschen, wenn er okkultistischer Aspirant wird. Er sieht die Sonne in sich selber in genau derselben Weise, wie er die Sonne äußerlich sieht, wenn der Tag beginnt und solange der Tag dauert. Und wie er die Gegenstände um sich herum sieht, indem das Sonnenlicht zurückgeschickt wird von den äußeren Gegenständen, so sieht der okkultistische Aspirant das Sonnenhafte, wie es ihm von seinem eigenen Inneren zurückgegeben wird, wenn er zu einer gewissen Stufe des Hellsehens gelangt ist. Es ist gleichsam die Gestalt seines mittleren Menschen, die sich in ihrer Durchleuchtetheit zeigt“ (GA 137, S. 131f, Hervorhebung A.F.).
Der mittlere Mensch ist der auf dem rhythmischen System basierende Brustkorb-Mensch, der Fühl-Mensch. Dieses Fühlen strahlt vom Menschen aus wie die Sonne. Es tastet die seelische Umgebung ab und reagiert mit verschiedenen Graden von Sympathie oder Antipathie auf alles, was in die fühlende Wahrnehmung tritt. Dadurch erwacht das Bewusstsein. So wie das äußere Licht erst sichtbar wird, wenn es auf etwas auftrifft, wenn es ein Beleuchtetes gibt, braucht die Seele dieses Außen, auf das sie reagiert, um ihr Bewusstseinslicht zu erleben. Dieses innere Licht ist nicht das Denken. Es ist eine Voraussetzung, um das Denkvermögen zu betätigen.
Einen dritten Aspekt dieses geistigen Licht-Erlebens schildert Rudolf Steiner als eine Stufe der Einweihung und verbindet dieses Erleben mit der Wintersonnenwende: “Wie der Mystiker die Fähigkeit hat, in sein eigenes Inneres hinunterzusteigen, so erlangten sie (die nördlichen, mitteleuropäischen Völker) die Fähigkeit …, die Materie zu durchschauen, das heißt, sie konnten nicht bloß das sehen, was man als Oberfläche wahrnimmt, sondern sie konnten durch diese hindurchschauen, vor allen Dingen vermochten sie in der Zeit von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang durch unsere Erde hindurchzuschauen, und durch die durchsichtige Erde hindurch erglänzte ihnen lebendig die Sonne. Das nannte man in den alten Mysterien das Schauen der Sonne um Mitternacht. Allerdings konnte die Sonne in ihrer größten Fülle und Herrlichkeit nur dann geschaut werden, wenn man sich mit seiner Seele in der Zeit der Wintersonnenwende jenem Zustande genähert hatte, wo der ganze äußere Sinnesteppich abgestorben war. Dann hatte man die Fähigkeit errungen, die Sonne zu schauen, jetzt nicht als eine blendende Wesenheit, wie sie bei Tag erscheint, sondern alles Blendende an der Sonne war abgeschwächt; man sah die Sonne nicht mehr als physisches Wesen draußen, sondern als geistiges Wesen. Man schaute den Sonnengeist. Was als physische Wirkung wie eine Blendung wirkte, war ausgelöscht durch die Materie der Erde. Diese war durchsichtig geworden, und sie ließ nur das Geistige der Sonne durch.” (GA 119, Wien, 23. März 1910, S. 99f, Hervorhebung A.F.)
Selbstgefühl
Das Mantra führt zum “Selbstgefühl”. Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit sind uns heute geläufig. Doch was ist mit “Selbstgefühl” wirklich gemeint? Nach Rudolf Steiner ist das Selbstgefühl die Wahrnehmung des “Ich bin”. Diese Wahrnehmung in der eigenen Innenwelt entwickelte sich auf Kosten der Wahrnehmung des Geistigen in der Außenwelt. “Wenn wir also zurückgehen in Zeiten, in denen für die Zivilisation die alten orientalischen Anschauungen tonangebend waren, so war es eben so, daß die Menschen im alltäglichen Leben eine beseelte Natur empfanden, aber ein ganz schwaches, fast gar kein Selbstgefühl hatten, gar nicht dieses Selbstgefühl in der Überzeugung «Ich bin» zusammenfaßten, daß aber einzelne Menschen, welche durch die Mysterienanstalten geschult wurden, dazu gebracht wurden, dieses «Ich bin» zu erleben.” (GA 211, Dornach, 25. März 1922, S. 50, Hervorhebungen A.F.)
„Der Grieche hatte immerhin noch die Fähigkeit, die zwei Gesichtspunkte nebeneinander zu erleben, und zwar ohne besondere Schulung. Der Grieche erlebte noch deutlich, wenn auch schwächer als die Menschen älterer Zeiten, in Quelle, im Fluß, im Berg, im Baum das Geistig-Seelische. Aber zu gleicher Zeit konnte er absehen von dem Geistig-Seelischen, auch das Tote in der Natur erleben und ein Selbstgefühl haben. Das gibt namentlich dem Griechentum seinen besonderen Charakter. Der Grieche hatte noch nicht eine solche Anschauung der Welt wie wir. Er konnte zwar schon solche Begriffe und Ideen von der Welt entwickeln wie wir, aber er konnte zu gleicher Zeit diejenigen Anschauungen ernst nehmen, die noch in Bildern gegeben waren.” (GA 211, Dornach, 25. März 1922, S. 52, Hervorhebung A.F.)
Rudolf Steiner benutzt den Begriff des Selbstgefühls auch für eine Stufe auf dem Weg vom Tod zu einer neuen Geburt. Das Kamaloka (die Zeit der Reinigung) hat er bereits durchschritten und lebt nun im Sonnenbereich, der eigentlichen Geistwelt. Da mir hier eine deutliche Parallele auffällt zu der oben angeführten Schilderung der Bewusstseinsentwicklung hin zum Selbstgefühl, zitiere ich ebenfalls etwas ausführlicher:
„Der Mensch ist Geist unter Geistern. Aber dasjenige, was er als seine Welt jetzt erblickt, ist das Wunder der menschlichen Organisation selber als Kosmos, als ganze Welt. Wie hier Berge, Flüsse, Sterne, Wolken unsere Umgebung sind, so ist dann, wenn wir als Geist unter Geistern leben, der Mensch in seiner wunderbaren Organisation unsere Umgebung, unsere Welt. Wir blicken hinaus, wir blicken – wenn ich mich bildhaft ausdrücken darf – in der geistigen Welt links und blicken rechts: wie hier überall Felsen, Flüsse, Berge sind, so ist dort überall Mensch. Der Mensch ist die Welt. Und an dieser Welt, die eigentlich Mensch ist, sind wir beschäftigt. …
Das ist das große Geheimnis, dass die Himmelsbeschäftigung des Menschen darinnen besteht, den großen Geistkeim für den späteren Erdenmenschen selber zu weben mit den Geistern der höheren Hierarchien zusammen. Und jetzt weben wir – aber in riesiger Größe in dem Geistkosmos darinnen – das Gewebe unseres eigenen Erdenmenschen, der wir dann sind, wenn wir wiederum zum Erdenleben heruntersteigen. …
Dann tritt ein anderer Zustand ein. Dasjenige, was vorher war, war so, dass man die einzelnen Geistwesen als Individualitäten wirklich geschaut hat. Man lernte sozusagen von Angesicht zu Angesicht, indem man mit ihnen arbeitete, die Geistwesen kennen. Dann tritt einmal ein Zustand ein, wo – ich möchte sagen, es ist nur bildlich gesprochen, aber man kann für diese Dinge ja nur Bilder anwenden – diese Geistwesen immer undeutlicher und undeutlicher werden und mehr ein allgemeines Geistgebilde auftritt. Man kann das so aussprechen, dass man sagt: Eine gewisse Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erlebt man so, dass man unmittelbar mit den Geistwesen lebt. Dann kommt eine Zeit, wo man nur in der Offenbarung der Geistwesen lebt, wo sie sich einem offenbaren. … (man lebt) ich möchte sagen mehr auf pantheistische Weise in einer allgemeinen geistigen Welt.
Indem Sie jetzt in einer allgemeinen geistigen Welt leben, taucht aber aus Ihrem Inneren ein stärkeres Selbstgefühl auf, als Sie vorher hatten. Vorher waren Sie in Ihrem Selbst so, dass Sie gewissermaßen eins waren mit der geistigen Welt, die Sie in Ihren Individualitäten erlebten. Jetzt fühlen Sie die geistige Welt gewissermaßen nur wie eine allgemeine Geistigkeit. Aber Sie fühlen sich stärker. Es erwacht die Intensität des eigenen Selbstgefühles. Und damit tritt langsam und allmählich im Menschen wiederum das Bedürfnis auf nach einem neuen Erdendasein. Mit dem Erwachen des Selbstgefühls tritt das Bedürfnis auf nach einem neuen Erdendasein. …
In dem Moment, wo die geistige Welt gewissermaßen in ihren Individualitäten ineinander verschwimmt und der Mensch die geistige Welt im allgemeinen wahrnimmt, erwacht in ihm das Interesse für die Erdenwelt wiederum.“ (Steiner, GA 226, Menschenwesen, Menschenschicksal und Weltentwicklung, 2. Vortrag, 17. 5. 1923, S. 26, 27, 29ff, Hervorhebungen A.F.)
Nun zieht sich der Geistkeim zusammen und die Suche nach einem geeigneten Elternpaar beginnt. Das Erwachen des Selbstgefühls gibt also den Impuls für die neue Inkarnation. Die Bewegungsdynamik erhält dadurch den Impuls zur Umkehr – von der Ausdehnung des geistigen Menschenwesens bis in die Saturnsphäre – oder auch darüber hinaus in den Fixsternraum — zum erneuten Zusammenziehen, um schließlich den neuen menschlichen Leib zu bilden.
Welchen Prozess beschreibt das Mantra 39 n?
Im Mantra wird der Weg von der Hingabe an die Geistesoffenbarung zur Wahrnehmung von sich selber, dem Selbstgefühl geschildert. Dieser Weg entspricht der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit von der Einheit mit dem Göttlichen bis zur Einsamkeit im eigenen Ich. Was ein gewaltiger Prozess über sehr lange Zeiträume war, ist hier zusammengedrängt in die wenigen Zeilen des Mantras.
Es beginnt, indem der Ich-Sprecher des Mantras und damit auch ich als Leser Licht gewinne durch die Hingabe an die Geistesoffenbarung. Wahrnehmend vollkommen hingegeben an die Geistesoffenbarung schweigt das eigene Denken. Der Ich-Sprecher ist eins mit der geistigen Wahrnehmung — sie offenbart sich ihm. Sie schenkt sich ihm und er nimmt sie auf, ohne ihr erkennend gegenüberzustehen. Dieser Zustand der Hingabe an die Wahrnehmung entspricht dem von Rudolf Steiner geschilderten Einschlafen in die Wahrnehmung. Auch wenn wir eine äußere Wahrnehmung haben, schlafen wir ein für unsere Innenwelt und erwachen erst, wenn zur Wahrnehmung der Begriff hinzutritt — wenn das Denken einsetzt.
Durch die Hingabe an die Geistesoffenbarung gewinnt der Ich-Sprecher (und im Mitvollzug ich als Leser) das Licht des Weltenwesens. Wer ist dieses Weltenwesen, dessen Licht ich gewinne? Es ist, dem obigen Zitat Rudolf Steiners folgend, das Weltenfühlen, das in mir zum Licht wird, zu meiner geistigen Sonnenkraft (siehe oben).
Ich gewinne dieses Licht. Das Verb gewinnen weckt die Assoziation der Goldgewinnung durch Verhüttung. Das Gold ist vorhanden im Gestein, doch muss es herausgelöst, geschmolzen werden. Im obigen Zitat zum Weltenfühlen beschreibt Rudolf Steiner, dass dieses Licht des Nachts in mich einströmt. Wenn ich schlafend — das Mantra sagt an die Geistesoffenbarung, — d.h. in die Wahrnehmung hineinschlafend hingegeben bin, gewinne ich dieses Licht; dann fließt es mir zu vom Weltenwesen des Weltenfühlens. Dann löse ich dieses Licht aus dem kosmischen Zusammenhang heraus und mache es zu meinem individuellen Licht.
Durch die Verbindung des Fühl-Menschen, des mittleren Menschen mit der Sonne kann ich auch annehmen, dass mit dem besagten Licht, das in mich einströmt während ich schlafe, oder anders ausgedrückt, das ich vom Weltenwesen gewinne, das kosmische Sonnenwesen gemeint ist, der Christus. Diese Aussage steht mit der obigen Abbildung nicht im Widerspruch, da der Sonnenbereich der Maria auch für ihr Kind steht und geistige Wesen nicht nebeneinander bestehen, sondern sich durchdringen.
Das geistige Licht ist für mein Verständnis das Licht des Bewusstseins jedoch noch bevor die Denktätigkeit einsetzt. Indem ich fühlend mir meiner Umwelt, d.h. alles dessen, das sich von meinem Eigensein abgrenzt, bewusstwerde, erwacht auch das Bewusstsein für mich selber — dafür, dass “ich bin”.
Jahve hatte sich Moses im nie verlöschenden Dornbusch offenbart als der “Ich bin der Ich-Bin”. Rudolf Steiner nennt diese Gotteserfahrung eine Vorausspiegelung der Christuserfahrung. In sieben Ich-Bin-Worten gibt der Christus sich seinen Jüngern zu erkennen. Eines davon lautet direkt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh. 8,12 EU) Vom Christus gewinne ich also das Licht meines Bewusstseins.
Das Mantra fährt fort: “Gedankenkraft, sie wächst …” Das ist verständlich, denn durch mein zunehmendes Bewusstseinslicht wächst meine Gedankenkraft. Je kraftvoller die Gedanken geführt werden können, umso klarer wird das Denken. Logisch zu denken bedeutete im alten Griechenland, dem Logos gemäß zu denken. Rudolf Steiner fordert, den Willen ins Denken zu bringen (siehe oben). Er meint damit den Willensanteil im Denken wahrzunehmen, der benötigt wird, um nicht assoziativ, sondern sachgemäß die Denkschritte zu führen. Ein solch willentlich geführtes Denken wird ein klares Denken, ein unterscheidungskräftiges Denken. Immer klarer stehe ich dadurch der Welt gegenüber und unterscheide mich von ihr. Das ist der Bewusstseinszustand des modernen Menschen.
Das Mantra sagt: Die Gedankenkraft gibt mir mich selbst. Im Denken erfasst der Mensch sein Ich. “Mir mich selbst” klingt wie eine Kennung Odhins. In Odins Runenlied, dem Hávamál der Lieder-Edda heißt es: „Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht, mir selber ich selbst, am Ast des Baums, dem man nicht ansehen kann, aus welcher Wurzel er spross.“ (Odhins Runenlied 138, zitiert nach G. Jäger, Die Bildsprache der Edda, 2010, Hervorhebung A.F.) Odhin hing an der Esche Yggdrasil, dem Ich-Baum, wie Rudolf Steiner ihn nennt, bis ihm die Runen erscheinen. Die Ich-Wahrnehmung, die für uns alltägliches Erleben ist, war für Odhin Ergebnis einer Einweihung. Die Wahrnehmung geistiger Wesen in der Natur erstarrte ihm zur Rune. Zwar konnte er diese Runen lesen, die Spuren der Wirksamkeit geistiger Wesen deuten, doch opferte er die unmittelbare Geistwahrnehmung, wurde ein Einäugiger. Erst dadurch wurde er wahrnehmungsfähig für das Erleben des eigenen Ichs. Durch die erstorbene Außenwelt erwachte er für sein Ich. (Siehe diesen Zusammenhang im Zitat oben)
Das moderne Denken, das auf den ersten Blick wie eine Sackgasse in der Menschheitsentwicklung wirkt, bereitet laut Rudolf Steiner im Verborgenen den Fortschritt vor. Möglicherweise nimmt das Mantra mit den Worten der wachsenden, sich klärenden Gedankenkraft darauf Bezug. Rudolf Steiner führt aus: “… man kann den «Fall» in den Materialismus nur allein beachten, und dann über ihn traurig sein. Aber während das Anschauen dieses Zeitalters sich auf die äußere physische Welt beschränken mußte, entfaltete sich im Innern der Seele eine gereinigte, in sich selbst bestehende Geistigkeit des Menschen als Erleben. … Der Mensch hat eine gewisse Zeit hindurch das eigene Geistige mit dem Materiellen der Natur erfüllt; er soll es wieder mit ureigener Geistigkeit als kosmischen Inhalt erfüllen. Die Gedankenbildung verlor sich eine Weile an die Materie des Kosmos; sie muß sich in dem kosmischen Geiste wieder finden. In die kalte, abstrakte Gedankenwelt kann Wärme, kann wesenserfüllte Geist-Wirklichkeit eintreten. …
Was im Zeichen des Materialismus an Naturerkenntnis gewonnen worden ist, kann in geistgemäßer Art im inneren Seelenleben erfaßt werden. Michael, der «von oben» gesprochen hat, kann «aus dem Innern», wo er seinen neuen Wohnsitz aufschlagen wird, gehört werden. Mehr imaginativ gesprochen, kann dies so ausgedrückt werden: Das Sonnenhafte, das der Mensch durch lange Zeiten nur aus dem Kosmos in sich aufnahm, wird im Innern der Seele leuchtend werden. Der Mensch wird von einer «innern Sonne» sprechen lernen. Er wird sich deshalb in seinem Leben zwischen Geburt und Tod nicht weniger als Erdenwesen wissen; aber er wird das auf der Erde wandelnde eigene Wesen als sonnengeführt erkennen. Er wird als Wahrheit empfinden lernen, daß ihn im Innern eine Wesenheit in ein Licht stellt, das zwar auf das Erdendasein leuchtet, aber nicht in diesem entzündet wird.” (GA 26, Leitsätze S. 66f)
Das Mantra endet nicht beim heute üblichen Ich-Erleben, bei dem uns unsere Gedankenkraft fortlaufend uns selbst gibt. Ein weiterer Schritt schließt sich mit “Und” an. Es heißt weiter: “Und weckend löst sich mir aus Denkermacht das Selbstgefühl.” Das “Und” sagt, dass ich noch nicht am Ziel bin, wenn ich mir selbst durch die Gedankenkraft gegeben werde. Im Mantra wird deutlich, dass ich noch schlafe, denn das folgende Selbstgefühl löst sich weckend. Eine Erweckung ist mit diesem zunächst schwer nachvollziehbarem Prozess verbunden.
Das Selbstgefühl löst sich mir aus Denkermacht. Aus der wachsenden Gedankenkraft ist Denkermacht geworden. Macht ist auch ohne direkte Betätigung vorhanden, Kraft nur, wenn sie eingesetzt wird. Durch die Verwandlung der Gedankenkraft zur Denkermacht wird aus einer situativen Kraftentfaltung eine bleibende Macht, deren bloße Gegenwart wirkt. Verbirgt sich hinter der Gedankenmacht die reine Geistigkeit, von der Rudolf Steiner oben spricht? Ist damit vielleicht gemeint, leibfrei denken zu können? Leibfrei bedeutet, abstrakte Ideen erfassen zu können, die nicht aus irdischer, unmittelbarer Wahrnehmung stammen; z. B. Liebe, Freiheit oder eben alle von Rudolf Steiner mitgeteilten geistigen Zusammenhänge — und so auch mich selbst als rein geistiges Wesen.
Im Gegensatz zu meinem alltäglich wahrgenommenen Selbstgefühl beruht das sich lösende Selbstgefühl nicht auf der Wahrnehmung meiner Körperlichkeit. Denn was ich an Selbstgefühl durch Körperwahrnehmungen erlange, das kann sich nicht lösen. Es erlischt, sobald die körperlich vermittelte Wahrnehmung aufhört. Anders verhält es sich mit dem im Mantra geschilderten Selbstgefühl. Es entstammt stattdessen meiner Macht zu denken. Es löst sich aus Denkermacht. Damit erlöst, befreit es sich auch aus der Macht irdischen Denkens. Wird mit diesem sich lösenden, weckenden Selbstgefühl auf eine reine Geistigkeit gedeutet, die unabhängig ist vom Körper und vom irdischen Denken? Ist mit diesem Selbstgefühl eine Ich-Wahrnehmung gemeint, die jenseits aller irdischen Bedingtheiten liegt und deshalb auch ungetrübt ist von egoistischer Begrenzung? Im Bild gesprochen: Schlüpft das Selbstgefühl — der geistige Mensch sozusagen aus der Denkermacht, wie der Schmetterling aus der Puppe?
Für mich liegt in diesem Mantra die Erfahrung der Erleuchtung, der Erweckung aus dem träumenden, von der Täuschung der Maya gefangenen Bewusstsein.