9 I (Neun und großes i)

Vergessend meine Willenseigenheit

Erfül­let Wel­tenwärme sommerkündend

Mir Geist und Seelenwesen;

Im Licht mich zu verlieren

Gebi­etet mir das Geistesschauen,

Und kraftvoll kün­det Ahnung mir:

Ver­liere dich, um dich zu finden.

Zunächst ein Wort zu Fronleichnam

Fron­le­ich­nam ist das let­zte der Feste, deren Dat­en sich Jahr für Jahr entsprechend des Oster-Datums ver­schieben. Fron­le­ich­nam ist auss­chließlich ein katholis­ches Fest. Es find­et wed­er in der evan­ge­lis­chen Kirche Beach­tung noch im Kul­tus der Chris­tenge­mein­schaft (“Die Chris­tenge­mein­schaft — Bewe­gung für religiöse Erneuerung”, die der Anthro­poso­phie Rudolf Stein­ers nah­este­ht). Es stellt sich die berechtigte Frage, ob für Rudolf Stein­er und damit für die Mantren des See­lenkalen­ders dieses Fest von Bedeu­tung war/ist. Eine Antwort gibt mir die Eury­th­mieform, die Rudolf Stein­er für dieses Mantra 9 I ent­wor­fen hat, denn hier erscheint der zen­trale Ort des Festes – der Altar in T‑Form, wie die fol­gende Abbil­dung verdeutlicht.

Eury­th­mieform zum Mantra 9 I von Rudolf Steiner

Die Lin­ien zeigen die Far­ben der von den Eury­th­mis­ten zu tra­gen­den Stola

Wissenswertes zu Fronleichnam

Der Fest-Name Fron­le­ich­nam ist eine Über­set­zung aus dem Lateinis­chen. Hier heißt das Fest ‘Fest des heilig­sten Leibes und Blutes Christi´, (Sollem­ni­tas Sanc­tis­si­mi Cor­poris et San­gui­nis Christi), kurz Leib des Her­rn. Im Mit­tel­hochdeutschen bedeutet vrôn ‘was den Her­rn bet­rifft´ und lîcham ‘der Leib´. Hier wird der Leib Christi gefeiert, das Altarsakra­ment von Leib und Blut in Brot und Wein. Pfin­g­sten wur­den die Jünger zu Apos­teln, zu Verkün­dern des Chris­ten­tums, die heilen, taufen und in allen Sprachen lehren kon­nten. Pfin­g­sten gilt als Geburt­stag der Kirche. Fron­le­ich­nam ist das Fest der Ein­set­zung des Altarsakra­ments, also das Fest der Vere­ini­gung mit Chris­tus in Brot und Wein.

Doch anders als Him­melfahrt und Pfin­g­sten geht Fron­le­ich­nam nicht aus den Schilderun­gen des Evan­geli­ums oder der Apos­telgeschichte her­vor. Deshalb lehnte es Mar­tin Luther ab, sodass es in der evan­ge­lis­chen Kirche nicht gefeiert wird. Das Fron­le­ich­nams-Fest wurde von der Augustin­er-Nonne Juliana von Lüt­tich durch eine Vision, die sie 1209 empf­ing, angeregt. Chris­tus zeigte ihr eine Mond­scheibe, auf der ein dun­kler Fleck war. Der Fleck war das fehlende Fest im Kirchen­jahr zu Ehren des Abendmahls. Das Bis­tum Lüt­tich (Bel­gien) führte im Jahre 1246 das Fest ein und Papst Urban IV (der zuvor Erz­di­akon in Lüt­tich gewe­sen war) erk­lärte es 1264 zum Fest für die ganze Kirche.

Die Pfingsten umgebenden Donnerstags-Feste

Fron­le­ich­nam ist wie Him­melfahrt immer an einem Don­ner­stag. Dadurch umgeben Pfin­g­sten zwei Don­ner­stags-Feste. Obwohl die Abstände dieser bei­den Feste zu Pfin­g­sten rech­ner­isch nicht gle­ich sind, kann ich in diesen bei­den umgeben­den Don­ner­sta­gen eine gewisse Sym­me­trie ent­deck­en. Pfin­g­sten ist der 11. Tag nach Him­melfahrt und auch Fron­le­ich­nam ist der 11 Tag, wenn ich am Pfin­gst­mon­tag beginne zu zählen. Betra­chte ich Pfin­gst­son­ntag und Pfin­gst­mon­tag als die Kuppe eines Zeit-Berges, so liegen bei­de Don­ner­stags­feste 10 Tage ent­fer­nt. (Vom Oster­son­ntag aus gezählt sind es bis Fron­le­ich­nam 61 Tage). Was kön­nte sich darin ausdrücken?

Aus dem jüdis­chen Mys­te­rien­we­sen stammt die Lehre von den 10 Sephi­roth, den zehn Stufen, die sowohl für den Abstieg vom Geist in die Materie als auch für den Auf­stieg durch­laufen wer­den müssen. Die jew­eils zehn Tage vor und nach Pfin­g­sten kön­nen als ein Weg mit jew­eils zehn Stufen erlebt wer­den. Von Him­melfahrt bis Pfin­g­sten kön­nen wir eine auf­steigende Bewe­gung mit dem Chris­tus vol­lziehen, von Pfin­g­sten bis Fron­le­ich­nam, dem Fest des Her­rn, bzw. der Ein­set­zung des Abendmahls (siehe oben) von Brot und Wein, eine absteigende, auf die Erde führende.

Da bei­de Feste an einem Don­ner­stag stat­tfind­en, weisen sie einen Bezug zu Grün­don­ner­stag, dem Don­ner­stag der soge­nan­nten Großen Woche, der Kar­woche auf. An diesem Tag set­zte Chris­tus das Sakra­ment des Abendmahls ein, indem er sich mit Brot und Wein ver­band und es mit seinen Jüngern teilte. Es war das let­zte gemein­same Mahl, bevor er von Judas ver­rat­en und am Kar­fre­itag gekreuzigt wurde.

Kön­nte es also sein, dass dieses Großereig­nis, die Verbindung des Göt­tlichen mit dem Men­schen, erst durch den Prozess der drei Feste ver­standen wer­den kann? Es kommt mir das Bild in den Sinn, als ob Pfin­g­sten von zwei Wesen mit je zehn Fin­gern gehal­ten wird. Das eine Fest-Wesen gibt uns die Möglichkeit, uns mit dem Chris­tus in den Geist­bere­ich zu erheben (Him­melfahrt begin­nend), um Pfin­g­sten eine himm­lis­che Kom­mu­nion zu feiern, das andere trägt das heilige Mahl auf die Erde herunter und beschenkt uns dort an Fronleichnam.

Rudolf Stein­er beschreibt die durch denk­enden Auf­stieg mögliche Kom­mu­nion so: „Wer dem Denken seine über die Sin­nesauf­fas­sung hin­aus­ge­hende Wahrnehmungs­fähigkeit zuerken­nt, der muss ihm notge­drun­gen auch Objek­te zuerken­nen, die über die bloße sin­nen­fäl­lige Wirk­lichkeit hin­aus liegen. Die Objek­te des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, ver­schmilzt es mit dem Urgrunde des Wel­tenda­seins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Men­schen ein: er wird mit der objek­tiv­en Wirk­lichkeit auf ihrer höch­sten Potenz eins. Das Gewahrw­er­den der Idee in der Wirk­lichkeit ist die wahre Kom­mu­nion des Men­schen.“ (Lit.: GA 1, S. 125f) „Wer weiß, daß der Men­sch bei jedem Gedanken einen göt­tlichen Strom in sich ein­strö­men läßt, wer sich dessen bewußt ist, der erhält als Fol­geer­schei­n­ung die Gabe der höheren Erken­nt­nis. Wer weiß, daß Erken­nt­nis Kom­mu­nion ist, der weiß auch, daß sie nichts anderes ist, als das­jenige, was sich sym­bol­isiert in dem Abendmahl.“ (Lit.: GA 266a, S. 48)

Die absteigende Bewe­gung, in der durch sym­bol­is­che Hand­lung das Heilige von oben hinein­wirkt, das Sakra­ment, charak­ter­isiert Rudolf Stein­er fol­gen­der­maßen: “Ein Sakra­ment ist eine physis­che Hand­lung, die so ver­richtet wird, daß in ihr sich sym­bol­isch ein geistiger Vor­gang aus­drückt. Es ist eine Sym­bo­l­ik, die ihre Recht­fer­ti­gung auf höheren Pla­nen hat. Nichts ist im Sakra­ment willkür­lich. Alles ist bis ins Kle­in­ste hinein ein Abbild eines höheren okkul­ten Vor­ganges. Der­jenige, der ein Sakra­ment ver­ste­hen will, bei dem das Zer­e­moniell ein Abbild ist eines geisti­gen Vor­ganges, der muß sich bekan­nt­machen mit dem, was da zugrun­deliegt. Es ist ein okkul­ter Vor­gang, der den äußeren Augen ent­zo­gen ist. Bei jedem Sakra­men­tal­is­mus vol­lzieht sich nicht nur etwas Ver­standesmäßiges, son­dern es vol­lzieht sich etwas, was eine reale, okkulte Bedeu­tung hat. .… Der Men­sch muß wiederum spir­ituelles Leben schaf­fen bis in jeden Hand­griff und jeden Schritt hinein; und das wieder einzuführen, ist die Auf­gabe und das Bestreben der spir­ituellen Bewe­gung. Der Sakra­men­tal­is­mus der früheren Zeit muß wiederkom­men. Man muß wis­sen, daß es ein anderes ist, aus dem Geiste her­aus zu han­deln, als aus dem Materiellen her­aus zu han­deln. Spir­ituelles Leben wieder ausströ­men zu lassen, das ist unser Ziel.“ (Lit.: GA 92, S. 35f)

Was sagt mir das Mantra 9 I (großes i)?

Das Ende der Oster-Zeit ist im Mantra 9 I erleb­bar. Etwas ganz Neues, eine große Ver­wand­lung kündigt sich an. Das Mantra 9 I begin­nt mit der Beschrei­bung ein­er Gle­ichzeit­igkeit. Während ich meine Wil­len­seigen­heit vergesse, erfüllt mich Wel­tenwärme. Es gibt einen Zusam­men­hang zwis­chen Wille und Wärme. Als Men­sch durch­dringt meinen Kör­p­er Eigen­wärme. Sie ist Leben­skraft. Gle­ichzeit­ig bin ich als Men­sch mit eigen­em, frei hand­hab­barem Willen begabt. Die Eigen­wärme ist nach Rudolf Stein­er die Grund­lage mein­er See­len­fähigkeit des Wol­lens. Die Wel­tenwärme ist ganz sich­er keine Eigen­wärme. Sie durch­dringt mich, während ich meine Wil­len­seigen­heit vergesse. Es heißt aber nicht, dass ich meinen Willen vergesse, son­dern meine Eigen­heit im Willen. Als Fähigkeit mein­er Seele bleibt der Wille also erhal­ten. Ich vergesse lediglich meine Eigen­heit, meine Abge­gren­ztheit, mein Sub­jekt-Sein, das dem Objekt seinen Willen aufzwingt. Indem ich meine Wil­len­seigen­heit vergesse, entschwindet die Grund­lage, auf der ich mich als Eigen­we­sen und let­ztlich als ego­is­tis­ches Wesen gebär­den kann. Damit ist gezeigt: wenn mich Wel­tenwärme durch­dringt, also keine Eigen­wärme, so bildet diese Wel­tenwärme keine Grund­lage für einen eige­nen Willen. Das Mantra sagt, die Wil­len­seigen­heit wird in diesem Zuge vergessen.

Die Wel­tenwärme kün­det mir den Som­mer. Erstaunlicher­weise ist Som­mer hier nicht als Sub­stan­tiv gebraucht, son­dern bildet mit dem Adverb “kün­dend” das gemein­same Wort der Beschrei­bung <som­merkün­dend>. Welche Botschaft liegt in dieser ungewöhn­lichen Wort-Neuschöp­fung? Ein Haupt­wort ist ein Namenswort, es ist ein Erken­nt­nisurteil, ein Begriff. Wie Rudolf Stein­er beschreibt, bilden wir die Begriffe durch die unbe­wusst sich vol­lziehende Verbindung von Wahrnehmung und Denken (siehe oben). Diese bei­den Pole men­schlich­er Aktiv­ität entsprechen Som­mer und Win­ter im Jahres­lauf. “Was die große Welt im Zeit­en­laufe offen­bart, entspricht einem Pen­delschlage des Men­schen­we­sens, der nicht im Ele­mente der Zeit abläuft. Es kann vielmehr fühlen der Men­sch sein an die Sinne und ihre Wahrnehmungen hingegebenes Wesen als entsprechend der licht- und wärme-durch­wobe­nen Som­mer­natur. Das Gegrün­det­sein in sich sel­ber und das Leben in der eige­nen Gedanken- und Wil­lenswelt kann er empfind­en als Win­ter­da­sein.” (Rudolf Stein­er, Vor­wort zur ersten Aus­gabe (1912/13) des See­lenkalen­ders) Durch die Ver­mei­dung der Sub­stan­tiv-Form von Som­mer in <som­merkün­dend> wird der Begriff <Som­mer> ver­mieden und die Wahrnehmungs-Seite dieses Prozess­es betont. Der Erken­nt­nisakt, der zum Win­ter gehört, find­et nicht statt. In der Wahrnehmung gebe ich mich hin, während meine Eigen­wahrnehmung erlis­cht, es sein denn, ein gezieltes Train­ing hielte dagegen.

Genauer heißt es, dass die Wel­tenwärme meinen Geist und mein See­len­we­sen erfüllt. Es fällt auf, dass von der Drei­heit Kör­p­er-Seele-Geist nur Geist und See­len­we­sen genan­nt wer­den. Warum? In welchem Zus­tand befinde ich mich hier? Ein Men­sch, der keine “Eigen­wärme” mehr besitzt, und der nichts mehr wollen kann, der ist auch tot. Was ein Men­sch infolge des Ver­lustes an Eigen­wärme vergessen hat, kann er allerd­ings wieder erin­nern. Wann wird das für seine Wil­len­seigen­heit — seinen Eigen­willen — sein? Erst wenn diese Indi­vid­u­al­ität sich wieder inkarniert, erin­nert sie ihre Wil­len­seigen­heit wieder. Deshalb wer­den nur Geist und See­len­we­sen von der Wel­tenwärme erfüllt, denn der Leib ist kalt und tot.

Was ist darüber hin­aus mit Som­mer gemeint? Was wird mir da gekün­det? Über den Hochsom­mer sagt Rudolf Stein­er, dass der Erdor­gan­is­mus hier max­i­mal ausat­met, während um die Wei­h­nacht­szeit eine max­i­male Einat­mung stat­tfind­et. Beim Men­schen ist die gründlich­ste Ausat­mung die let­zte Ausat­mung, mit der das Leben endet. Das gle­iche gilt für extrem gesteigerte Hingabe und die größte Unbe­wuss­theit. Sie ver­wirk­lichen sich im Tod.

Im Spruch 9 I ist der Tod als eine zu lösende Auf­gabe beschrieben. Diese beste­ht aus zwei Aspek­ten: einem Gebot und ein­er Verkündi­gung. Das Schauen des Geistes gebi­etet mir, mich im Licht zu ver­lieren. Die Ahnung kün­det mir, dass der Schritt des Selb­stver­lustes im Licht notwendig ist, damit ich mich (auf neue Weise) find­en kann.

Im Mantra erhalte ich nach der Erfül­lung mit der Wel­tenwärme das Gebot, den Befehl, mich im Licht zu ver­lieren. Erstaunlich­er Weise erhalte ich dieses Gebot von ein­er Tätigkeit, vom Geistess­chauen. Das bin ja wohl ich sel­ber, der da im Geiste schaut! Warum befiehlt mir meine Tätigkeit etwas, son­st bin ich doch der Aus­gangspunkt mein­er Tätigkeit. Rudolf Stein­er beschreibt den Zus­tand eines Ver­stor­be­nen als ent­ge­genge­set­zt zu dem eines Leben­den. So kön­nte es sein, dass sich auch hierin die Tat­sache meines Gestor­ben-seins aus­drückt. Welche Schau wird es sein? In Nah­tode­ser­leb­nis­sen wer­den sehr häu­fig starke Lichter­leb­nisse beschrieben. Hier wird mir geboten, mich im Licht zu ver­lieren. Auf einen Seh-Ein­druck fol­gt auf der Erde nor­maler­weise wie schon erwäh­nt, unmit­tel­bar die Bil­dung des Begriffes. Ich erkenne und benenne das Gese­hene inner­lich. Eine Art Selb­stvergewis­serung find­et dadurch statt. Ich erlebe mich im Denken. Ver­liere ich mich, so erlebe ich mich nicht mehr. Mich im Licht zu ver­lieren bedeutet mit dem Licht so zu ver­schmelzen, dass ich mich nicht mehr vom Licht unter­schei­de, es nicht mehr benenne, der Wahrnehmung nicht mehr gegenüber­ste­he, son­dern Eins werde mit dem Licht – und damit mit Gott. Im gewis­sen Sinne mache ich dadurch den Sün­den­fall rückgängig.

Im soge­nan­nten Tibetis­chen Toten­buch wird beschrieben, dass die erste Erfahrung nach dem Tod die <Grund-Lichtheit des Todes> ist. Es ist das Licht, das noch nicht Farbe ist. Diese Grund-Lichtheit ist so über­wälti­gend, dass die wenig­sten sie ertra­gen. Wer sie aber erken­nt als die wahre Natur seines Geistes — und des Geistes über­haupt, der ist erleuchtet und am Ziel der Erde­nen­twick­lung ange­langt. Er braucht sich nicht mehr zu inkarnieren. Die Per­son­ifizierung dieses Licht­es ist der Bud­dha Amitãb­ha (Bud­dha des gren­zen­losen Lichts), dessen Geist­land im West­en liegt. „Bud­dha Amitãb­ha (ist) die gren­zen­lose, lichte Natur unseres eige­nen Geistes. Im Tode wird die wahre Natur des Geistes im Augen­blick des Auf­scheinens der Grund-Lichtheit man­i­fest, aber nicht jed­er von uns wird bis dahin die nötige Ver­trautheit mit dieser Lichtheit entwick­elt haben, um sie auch erken­nen zu kön­nen“ (Sogyal Rin­poche, Das tibetis­che Buch vom Leben und vom Ster­ben, 1998, S. 278). Der erste Aspekt der zu lösenden Auf­gabe im Ster­ben, das Gebot, beste­ht also darin, voll­ständig mit dem Licht zu ver­schmelzen, zu Licht zu werden.

Der zweite Aspekt der zu lösenden Auf­gabe im Ster­ben, die Verkündi­gung, erre­icht mich kraftvoll. Die Ahnung kün­det mir und spricht mich als ein Du an. Sie ste­ht mir dadurch als eine von mir zu unter­schei­den­den Kraft gegenüber, die einen größeren Weit­blick hat als ich. Sie verkün­det mir eine Zukun­ft­saus­sicht, die über meinen gegen­wär­ti­gen Hor­i­zont hin­aus­re­icht. Die Ahnung ver­heißt mir, dass ich mich find­en werde, wenn ich mich ver­liere. Das ist para­dox! Es mutet an wie der Durch­gang durch ein Nadelöhr. Es lässt mich ver­muten, dass ich nach­dem ich mich wieder gefun­den habe, total ver­wan­delt sein werde. Zwis­chen­durch jedoch werde ich weg sein, ein Nichts sein. Alles was an mir Gewor­denes ist, muss ich zuvor ver­lieren, aufgeben, im Licht auflösen. Ich muss zu Licht wer­den lassen, was mich als irdis­chen Men­schen bish­er aus­machte. Das Feuer zeigt uns anschaulich diesen Vergeis­ti­gung­sprozess von Materie. Das Holz ver­bren­nt und Licht entsteht.

Bei­de Schritte, sowohl das Ver­lieren, d.h. die Auflö­sung, als auch die Neugestal­tung, das Find­en, — sie bei­de kön­nen in der Meta­mor­phose von der Raupe zum Schmetter­ling erschaut wer­den. Die Raupe, die sich im Kokon der Pup­pen­hülle zum Schmetter­ling umgestal­tet, geht in diesem Prozess durch eine vol­lkommene Auflö­sung ihrer alten Struk­turen, bevor die neuen gebildet werden.

Die Ahnung ermutigt mich, dem Gebot des Geistess­chauens zu fol­gen. Sie ver­heißt mir, dass es nicht mein Ende sein wird, wenn ich mich im Licht ver­liere. Doch wer oder was werde ich sein, wenn ich mich danach wieder finde? Werde ich wie der Phönix aus der Asche steigen? Dazu sagt das Mantra nichts. Ich kann jedoch ver­muten, dass ich mich als rein geistiges Wesen wiederfind­en werde. Die Ahnung kann davon kün­den. Denn durch sie ist mir schon im Leben ein Führer zugewiesen, der die Verbindung zu meinem geisti­gen Sein aufrecht erhält.

Im Mantra 9 I wird der Prozess der Transsub­stan­ti­a­tion, der Ver­wand­lung von Materie in Geist, von irdis­chem Brot und irdis­chem Wein in den rein geisti­gen Leib und das rein geistige Blut Christi beschrieben. Dieser Prozess ist die Grund­lage des Abendmahl-Sakra­ments. In diesem Mantra bin ich der Leib, der ster­ben und im Licht sich ver­lieren muss. Meine Wil­len­seigen­heit ist der Wein. Die Wil­len­seigen­heit muss ich opfern, vergessen, damit mich Wel­tenwärme erfüllt und die Verkündi­gung der Ahnung wahr wird: “Ver­liere dich, um dich zu find­en.” Die Ahnung ist mein wis­sender Glaube, der mich zu diesem Schritt der Trans­for­ma­tion ermutigt.