2 B

Ins Äußre des Sinnesalls

Ver­liert Gedanken­macht ihr Eigensein;

Es find­en Geisteswelten

Den Men­schen­sprossen wieder,

Der seinen Keim in ihnen,

Doch seine Seelenfrucht

In sich muss finden.

Was erlebe ich im Mantra 2 B?

Das Mantra 2 B begin­nt mit ein­er sach­lichen Mit­teilung. Es geht um die Gedanken­macht. Es geht um die Macht zu denken, die Fähigkeit Gedanken zu bilden. Waren die Gedanken im vorherge­hen­den Mantra 1 A noch dumpf, also unbe­wusst, geht es jet­zt um das bewusste Denken. Es geht um grundle­gende Bedin­gun­gen dieses Denkens, nicht um indi­vidu­ellen Gedanken, denn ein Ich-Sprech­er ist im Text nicht vorhan­den. Das Mantra ist in der neu­tralen drit­ten Per­son geschrieben.

Doch was besagt die Mit­teilung über die Gedanken­macht tat­säch­lich? So klar, wie sie zuerst erscheint, ist sie nicht. Es erweist sich als schwierig, sie in eigene Worte zu fassen. Ich kann vielmehr bemerken, dass mich als Leser die Aus­sage mitreißt. Ich werde wie hin­aus­geschleud­ert ins Sin­nesall — so, wie auch die Gedanken­macht. Dort, im Sin­nesall, ver­liert die Gedanken­macht ihr Eigen­sein. Das Äußere des Sin­nesalls ist die äußere Welt, die pro­fane Sinneswelt, das Äußere, die undurch­dringliche Schale des Geistes. Das Sin­nesall ist die Gesamtheit dessen, was das Weltall unseren irdis­chen Sin­nen dar­bi­etet. Richtet sich die Gedanken­macht also auf das, was die Sinne ganz irdisch wahrnehmen, ver­liert sie ihr Eigensein.

Wenn die Gedanken­macht ihr Eigen­sein dadurch ver­liert, dass sie sich nach außen und der Sinneswahrnehmung zuwen­det, bedeutet dies, dass sie nach innen gewen­det Eigen­sein hat­te. Die nach innen gewen­dete Gedanken­macht ist auf die eige­nen Gefüh­le und Emo­tio­nen gerichtet. Diese dienen der Gedanken­macht als Anre­gung zu denken. Gedanken, die von Gefühlen und Emo­tio­nen aus­ge­hen, haben Eigen­sein, denn diese See­len­re­gun­gen sind ganz indi­vidu­ell und zudem in ständi­ger Wand­lung begrif­f­en. Die auf dieser Grund­lage gefäll­ten Urteile sind sub­jek­tiv. Sie ver­mit­teln das Erleb­nis, ein Eigen­we­sen zu sein, das sich von allen anderen unterscheidet.

Anders ist es, wenn die äußere Sinneswahrnehmung, die genaue Beobach­tung, die Grund­lage des Denkens bildet. Dann wird das Denken objek­tiv. Die Urteile wer­den all­ge­me­ingültig. Die Beobach­tung des Son­nen­weges am Him­mel führt zur Unter­schei­dung der vier Him­mel­srich­tun­gen. Die quan­ti­ta­tive Unter­schei­d­barkeit der Dinge lehrte den Men­schen zu zählen und zu rech­nen. Diese Erken­nt­nisse haben kein Eigen­sein, sie sind unab­hängig von der Indi­vid­u­al­ität des Denkers. Das Denken wird an der äußeren Sinneswelt erzo­gen, all­ge­me­ingültige, vom Moment unab­hängige, dauer­hafte Wahrheit­en zu erkennen.

Rudolf Stein­er geht über das dadurch gewonnene objek­tiv Wahre noch hin­aus. Er beschreibt, dass ein Denken, das auf wahrgenomme­nen, beobachteten Phänome­nen grün­det, den Men­schen in Kon­takt mit dem Geist bringt: “Ger­ade durch die Phänom­e­nolo­gie gelan­gen wir dazu, deut­lich zu sehen, wie in der Außen­welt Geist ist. Nicht wenn wir eine abstrak­te Meta­physik treiben, son­dern ger­ade durch die Phänom­e­nolo­gie gelan­gen wir zu der Erken­nt­nis des Geistes, indem wir wahrnehmen, wenn wir das zur Bewußtheit erheben, was wir son­st unbe­wußt tun, indem wir wahrnehmen, wie durch die Sinneswelt das Geistige in uns ein­dringt und uns sel­ber organ­isiert.“ (Lit.: GA 322, S. 116)

Rudolf Stein­er beschreibt, wie der Men­sch den Geist nicht durch die Wen­dung nach innen, son­dern ger­ade durch die äußere Wahrnehmung find­et, durch die phänom­e­nol­o­gisch genaue Beobach­tung. Und er sagt, dass dieser Geist in uns hinein­wirkt und uns organ­isiert. Im Mantra fol­gt nun die zweite Mit­teilung. Hier wird der Geist, genauer wer­den die Geis­teswel­ten als Han­del­nde wesen­haft beschrieben. Sie find­en den Men­schen wieder! Find­en ist eine aktive Hand­lung — und set­zt eine Zeit des Suchens voraus! Der Men­sch war den Geis­teswel­ten offen­sichtlich ver­loren gegan­gen. Er war aus diesen Wel­ten her­aus­ge­fall­en. Die Geis­teswel­ten find­en den Men­schen wieder. Heißt das nicht, dass die Geis­teswel­ten her­abgekom­men sind zum Menschen?

Wie ist es wohl, von den Geis­teswel­ten gefun­den zu wer­den? Was kann ich mir darunter vorstellen? Indem der Men­sch die geisti­gen Geset­ze, die hin­ter aller Erschei­n­ung ver­bor­gen sind, in sich bewegt und sie erken­nt, lebt ein Stück Ewigkeit der Geist­welt in ihm. Die Geis­teswel­ten find­en den Men­schen wieder, weil er durch objek­tive Erken­nt­nisse Anteil an der geisti­gen Welt gewon­nen hat.

Die Geis­teswel­ten find­en den Men­schen als Spross, als Men­schen­spross wieder. Das Bild zeigt einen pflanzen­haft sprossenden, wach­senden, sich entwick­el­nden Men­schen — einen solchen ohne rotes Blut, ohne Eigen­willen. Warum find­en die Geis­teswel­ten den Men­schen als pflan­zlichen Spross wieder? Alles was ist, ist weisheitsvoll gebildet. Der Men­sch ist da keine Aus­nahme. Sein Kör­p­er und seine seel­isch-geistige Organ­i­sa­tion sind der Weisheitswelt entsprossen. Er entstammt ihr. Ver­liert die Gedanken­macht ihr Eigen­sein, ihre Sub­jek­tiv­ität, erken­nt der Men­sch in der Sinneswelt die all­wal­tende Weisheit. Ohne Eigen­sein wird er nun als bewusstes Wesen wieder pflanzen­haft. So kön­nen die Geis­teswel­ten den Men­schen wiederfinden.

Der Men­sch ist Spross der Geis­teswel­ten, ihr Abkömm­ling und aus ihnen her­vorge­sprossen. Fol­gerichtig sagt das Mantra, dass er seinen Keim in den Geis­teswel­ten find­en kann. Der Men­sch hat seinen Ursprung in den Geis­teswel­ten. Doch sein Ziel, das, was von ihm Frucht wer­den und reifen soll — seine See­len­frucht, die find­et er dort nicht. Diese See­len­frucht muss er in sich find­en, in seinem eige­nen, indi­vidu­ellen Innern — dort, wo die Gedanken­macht Eigen­sein hat. In den Geis­teswel­ten gibt es all­ge­me­ingültige Weisheit aber keine indi­vidu­elle Erfahrung. Sie ist Frucht des Lebens auf der Erde — fern der Geis­teswel­ten. Leise klingt an, was Rudolf Stein­er immer wieder betont: der Men­sch muss auf der Erde etwas errin­gen und in die geistige Welt hin­auf­tra­gen, was es dort noch nicht gibt. Er soll sich einst an die neun Engel­re­iche als zehnte Hier­ar­chie angliedern und Qual­itäten mit in die geistige Welt brin­gen, die es dort so noch nicht gibt. Rudolf Stein­er sagt: “Nach den Erzen­geln und Engeln, … wird anzurei­hen sein der Rei­he der Hier­ar­chien der Geist der Frei­heit oder der Geist der Liebe, und das ist, von oben ange­fan­gen, die zehnte der Hier­ar­chien, die allerd­ings in Entwick­elung begrif­f­en ist, aber sie gehört zu den geisti­gen Hier­ar­chien.” (Lit: GA 110, S. 174)

Gedankenmacht und der Mensch als Pflanze

Das Mantra, das von der Gedanken­macht han­delt, ver­wen­det für den Men­schen lauter Bilder aus der Pflanzen­welt: (Men­schen-) Spross, Keim und (See­len-) Frucht. Was hat Gedanken­macht und Denken mit Pflanzen zu tun? Warum ist aus dieser Per­spek­tive der Men­sch Pflanze? Die Grund­lage des bewussten See­len­lebens und damit des Denkens ist das Bewusst­sein. Das Bewusst­seinslicht erhellt die seel­is­che Innen­welt wie die äußere Sonne den Raum durch­strahlt. So wie die Sonne die Pflanzen wach­sen lässt, so ermöglicht das Licht des Bewusst­seins Wahrnehmung und Denken. Wenn das Denken nicht­mehr willkür­lich geschieht, wenn der Men­sch nicht mehr aus seinem Eigen­sein her­aus denkt, son­dern die Weisheit der Welt in ihn ein­strömt, bilden sich Gedanken­ket­ten, die wach­sen wie Pflanzen — Gedankenpflanzen, Blatt für Blatt, Gedanken­schritt für Gedanken­schritt. Rudolf Stein­er betont oft, dass wir wieder ler­nen müssen, lebendi­ge Gedanken zu haben. Solche Gedanken gle­ichen Pflanzen.