30 d

Es sprießen mir im Seelensonnenlicht

Des Denkens reife Früchte,

In Selb­st­be­wusst­seins Sicherheit

Ver­wan­delt alles Fühlen sich.

Empfind­en kann ich freudevoll

Des Herb­stes Geisterwachen:

Der Win­ter wird in mir

Den See­len­som­mer wecken.

 

Das vierte apokalyptische Siegel

Das vierte apoka­lyp­tis­che Siegel im Jahreskreis (als Ei orientiert)

Im Mantra heißt es, dass des Denkens reife Früchte dem Ich-Sprech­er sprießen. Das vierte Siegel­bild zeigt die bei­den Tem­pel­säulen Jachin und Boas, die der ural­ten, jüdis­chen Kab­bala-Weisheit entstam­men. Diese Säulen sind Darstel­lun­gen reifer Denk-Früchte. Fern­er weist das Buch auf die Kab­bala hin, auf die zehn Sephi­roth. Rudolf Stein­er sagt, es gibt in der geisti­gen Welt ein Buch mit zehn Seit­en, das alle Weisheit der Welt enthält: „Das Lesen in den geisti­gen Urbildern nen­nt man im Okkul­tismus das Lesen des ‘zehn­blät­tri­gen Buch­es´“ (Vor­trag vom 3.4.1905 in Berlin) Mit den zehn Blät­tern wird auf die zehn Sephi­roth der Kab­bala ange­spielt, auf zehn Ema­na­tio­nen des Licht­es – mithin der Weisheit.

Rudolf Stein­er sel­ber deutet die Säulen des Siegels in Bezug auf den Blutkreis­lauf: „Siegel IV stellt unter anderem zwei Säulen dar, deren eine aus dem Meer, die andere aus dem Erdre­ich aufragt. In diesen Säulen ist das Geheim­nis angedeutet von der Rolle, welche das rote (sauer­stof­fre­iche) Blut und das blau­rote (kohlen­säur­ere­iche) Blut in der men­schlichen Entwick­lung spie­len. Das men­schliche «Ich» macht im Erdenkreis­lauf seine Entwick­lung dadurch durch, daß es sein Leben physisch zum Aus­druck bringt in der Wech­sel­wirkung zwis­chen rotem Blut, ohne das es kein Leben, und dem blauen Blut, ohne das es keine Erken­nt­nis gäbe. Blaues Blut ist der physis­che Aus­druck der Erken­nt­nis geben­den Kräfte, die aber für sich allein in ihrer men­schlichen Form mit dem Tode zusam­men­hän­gen, und rotes Blut ist der Aus­druck des Lebens, das aber in der men­schlichen Form keine Erken­nt­nis für sich allein geben kön­nte. Bei­de in ihrem Zusam­men­wirken stellen dar den Baum der Erken­nt­nis und den Baum des Lebens, oder auch die bei­den Säulen, auf denen sich das Leben und die Erken­nt­nis des Ich for­ten­twick­eln bis zu jen­em Vol­lkom­men­heit­grade, wo der Men­sch Eins wer­den wird mit den uni­ver­salen Erdenkräften. Dieser let­ztere Zus­tand der Zukun­ft kommt auf dem Siegel durch den Ober­leib zur Anschau­ung, der aus Wolken beste­ht, und durch das Gesicht, das sich die geisti­gen Kräfte der Sonne angeeignet hat. Das «Wis­sen» wird dann der Men­sch nicht mehr von außen in sich aufnehmen, son­dern in sich «ver­schlun­gen» haben, was in dem Buche in der Mitte des Siegels angedeutet ist. Erst durch solch­es «Ver­schlin­gen» auf höher­er Daseinsstufe öff­nen sich die sieben Siegel des Buch­es, wie sie auch auf Siegel III angedeutet sind. In der «Offen­barung St. Johan­nis» find­et man darüber die bedeu­tungsvollen Worte: «Und ich nahm das Büch­lein aus des Engels Hand und verzehrte es.….»“ (Lit.: GA 284, S. 93f)

Für mich ste­ht das Som­mer-Hal­b­jahr für die rote Jachin-Säule. Diese Säule ist in der Kab­bala mit her­ab­strö­men­dem Wass­er, mit der aus der geisti­gen Welt stam­menden, sich auf der Erde in allen Schöp­fun­gen ver­wirk­lichen­den Weisheit ver­bun­den. In der Wahrnehmungswelt, für die das Som­mer-Hal­b­jahr im See­lenkalen­der ste­ht, kommt diese Weisheit zur Erschei­n­ung. Der Sechsstern, der laut Rudolf Stein­er das Zeichen des Makrokos­mos ist, deutet auf dem Siegel­bild auf seine Weise darauf hin, eben­so die Segen­s­hand. Das rote, sauer­stof­fre­iche Blut strömt im Kör­perkreis­lauf eben­so vom Herzen zur Periph­erie, haupt­säch­lich nach unten — wie der Abwärtsstrom des Wassers der Jachin-Säule.

Das Win­ter-Hal­b­jahr ste­ht dementsprechend für die Boas-Säule. Mit ihr ist das auflodernde Feuer ver­bun­den. Feuer ist das Bild der im Men­schen auf­steigen­den Leben­skraft, die sich zu Bewusst­sein­skraft wan­delt. Träger der Bewusst­sein­skraft ist das venöse Blut, das im Kör­p­er von der Periph­erie zum Herzen strömt — eine über­wiegend auf­steigende Bewe­gung. Der Bewusst­seins-Prozess geschieht im Men­schen, im Mikrokos­mos, worauf der Fün­f­stern und die Hand, die das Buch hält hin­weisen. Das Son­nen­sym­bol deutet die mit­tlere Säule an, die in der Kab­bala Säule der Milde genan­nt wird, und die das Ergeb­nis des Zusam­men­wirkens der bei­den Grund­kräfte ist.

Stellen die Hal­b­jahre die Säulen dar, ste­ht der Jahreskreis in der Ei-Ori­en­tierung. Mit diesem Ei ist eine Drit­telung ver­bun­den: der Mond­bere­ich der Oster­scholle, der Son­nen­bere­ich und der Stern­bere­ich. Im fol­gen­den Zitat Rudolf Stein­ers, indem er gle­ich­falls über das vierte Siegel spricht, beschreibt die im Siegel­bild enthal­tene Drit­telung: Son­nen-Geist, Regen­bo­gen-Seele und die Säulen als die Feuer­füße, die mit dem Leib zusammenhängen.

„Das­jenige aber, was in unser­er Zeit stark lebt, erscheint vor dem hellse­herischen Auge des Apoka­lyp­tik­ers als jene Fig­ur, die sich aus Wolken her­aus­bildet, son­nenähn­lich­es Gesicht hat, in einen Regen­bo­gen überge­ht, und feurige Füße hat, von denen der eine auf dem Meer, der andere auf der Erde ste­ht (Off 10,1–2 LUT). Man möchte sagen, das ist in der Tat die bedeut­sam­ste Erschei­n­ung, die sich die gegen­wär­tige Men­schenseele vor Augen stellen soll. Denn in dem, was oben wolkenge­borenes Antlitz ist, liegen die Gedanken, die dem Geis­ter­lande ange­hören; in dem, was Regen­bo­gen ist, liegt die Gefühlswelt der Men­schenseele, die der See­len­welt ange­hört; in den feuri­gen Füßen, die aus der Kraft der meerüberdeck­ten Erde her­aus ihre Kraft erhiel­ten, liegt das, was im Leibe des Men­schen enthal­ten ist, der mit der physis­chen Welt zusammengehört.

Wir wer­den da, ich möchte sagen, auf das eigentliche Kul­turge­heim­nis der Gegen­wart hingewiesen, das sich ja zunächst so äußert, daß die Men­schen nicht gle­ich dreiges­pal­ten erscheinen, son­dern so erscheinen — was ja in unser­er jet­zi­gen Zeit nun mit Hän­den zu greifen ist -, daß wir Wolken­men­schen haben, die nur denken kön­nen, während verküm­mert sind die bei­den anderen Teile: Regen­bo­gen und Feuer­füße, daß wir Regen­bo­gen­men­schen haben, bei denen vorzugsweise das Gefühl aus­ge­bildet ist, die auch zum Beispiel die Anthro­poso­phie nur mit dem Gefühl erfassen kön­nen, nicht mit dem Ver­stande. Aber sie sind nicht nur in der anthro­posophis­chen Gesellschaft, son­dern auch draußen in der Welt vorhan­den. Diese Men­schen kön­nen die Welt nur mit dem Gefühl erfassen; bei ihnen ist verküm­mert Denken und Wille, aber das Gefühl ist beson­ders aus­ge­bildet. Dann gibt es heute Men­schen, die eigentlich so han­deln, wie wenn sie bloß den Willen hyper­tro­phiert aus­ge­bildet hät­ten. Verküm­mert ist ihr Denken und Gefühl: Stier­mäßig han­del­nde Men­schen, nur den unmit­tel­bar äußeren Impulsen hingegeben — die feuer­füßi­gen Men­schen.“ (Lit.: GA 346, S. 202f)

Hier beschreibt Rudolf Stein­er schließlich das Bild des vierten Siegels als Bild der zukün­fti­gen Men­schengestalt: „Aber es gibt noch eine höhere Entwick­elung. Der Men­sch stammt aus noch höheren Wel­ten, und er wird zu diesen höheren Wel­ten wieder hin­auf­steigen. Und seine Gestalt, wie sie der Men­sch heute hat, wird in die Welt dann ver­schwun­den sein. Was heute draußen in der Welt ist — die einzel­nen Buch­staben, aus denen der Men­sch zusam­menge­set­zt ist -, das alles wird er dann wieder­aufgenom­men haben: seine Gestalt wird sich iden­ti­fiziert haben mit der Wel­tengestalt. In ein­er gewis­sen triv­ialen Darstel­lung der Theoso­phie lehrt man und redet davon, daß man den Gott in sich selb­st suchen solle. Aber wer den Gott find­en will, muß ihn in den Werken suchen, die aus­ge­bre­it­et sind im Weltall. Nichts in der Welt ist bloß Materie — das ist nur schein­bar -, in Wirk­lichkeit ist alle Materie der Aus­druck von Geistigkeit, eine Kund­schaft von der Wirk­samkeit Gottes. Und der Men­sch wird sein Wesen gle­ich­sam aus­dehnen im Laufe kom­mender Zeit­en; mehr und mehr wird er sich iden­ti­fizieren mit der Welt, so daß man ihn darstellen kann, indem man statt der Men­schengestalt die Gestalt des Kos­mos set­zt. Das sehen Sie auf dem vierten Siegel mit dem Felsen, dem Meer und den Säulen. Das was heute als Wolken die Welt durchzieht, wird seine Materie dazu hergeben, um den Leib des Men­schen zu gestal­ten. Die Kräfte, die heute bei den Geis­tern der Sonne sind, wer­den in der Zukun­ft dem Men­schen das­jenige liefern, was in ein­er unendlich viel höheren Art seine geisti­gen Kräfte aus­bilden wird. Diese Son­nenkraft ist es, zu welch­er der Men­sch hin­strebt. Im Gegen­satz zu der Pflanze, die ihren Kopf, die Wurzel, zum Mit­telpunkt der Erde hin­senkt, wen­det er seinen Kopf der Sonne zu; und er wird ihn vere­ini­gen mit der Sonne und höhere Kräfte emp­fan­gen. Das haben Sie dargestellt in dem Son­nen­gesicht, das auf dem Wolken­leibe, auf dem Felsen, den Säulen ruht. Selb­stschöpferisch wird dann der Men­sch gewor­den sein; und als das Sym­bol der vol­lkomme­nen Schöp­fung umgibt den Men­schen der far­bige Regen­bo­gen. Auch in der Apoka­lypse des Johannes kön­nen Sie ein ähn­lich­es Siegel find­en. In der Mitte der Wolken befind­et sich ein Buch. Die Apoka­lypse sagt, daß der Eingewei­hte dies Buch ver­schlin­gen muß. Damit ist auf die Zeit hingewiesen, wo der Men­sch nicht nur äußer­lich die Weisheit empfängt, son­dern wo er sich mit ihr wie heute mit der Nahrung durch­drin­gen wird, wo er selb­st eine Verkör­pe­rung der Weisheit sein wird.“ (Lit.: GA 284, S. 76)

Was verkündet mir das Mantra 30 d?

Das Mantra 30 d lässt mich eine wun­der­bare Stim­mung erleben! Der Ich-Sprech­er ist in ein­er Zauber­welt angekom­men! Reife Früchte sprießen, sie kom­men sozusagen schon reif zur Erschei­n­ung und benöti­gen ‑anders als son­st — keine lange Entwick­lungszeit. Die See­len­sonne erfüllt und durchtränkt alles mit Licht.

Diese Stim­mung erin­nert mich an das Märchen von Frau Holle der Gebrüder Grimm (W. u. J. Grimm, KHM 24). Ich werde es aus­führlich­er zitieren, weil es bis in den Wort­laut hinein mit dem Mantra übereinstimmt:

Nach­dem das Mäd­chen voller Verzwei­flung in den Brun­nen gesprun­gen ist, um die hineinge­fal­l­ene Spule zu holen, heißt es weit­er: “Es ver­lor die Besin­nung, und als es erwachte und wieder zu sich sel­ber kam, war es auf ein­er schö­nen Wiese, wo die Sonne schien und vieltausend Blu­men standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Back­ofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: <Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, son­st ver­brenn ich: ich bin schon längst aus­ge­back­en.> Da trat es herzu und holte mit dem Brotsch­ieber alles nacheinan­der her­aus. Danach ging es weit­er und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel, und rief ihm zu: <Ach, schüt­tel mich, schüt­tel mich, wir Äpfel sind alle miteinan­der reif.> Da schüt­telte es den Baum, daß die Äpfel fie­len, als reg­neten sie, und schüt­telte, bis kein­er mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusam­men­gelegt hat­te, ging es wieder weit­er. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guck­te eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hat­te, ward ihm angst, und es wollte fort­laufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: <Was fürcht­est du dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehn. Du mußt nur acht­geben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig auf­schüt­telst, daß die Fed­ern fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.> Weil die Alte ihm so gut zus­prach, so faßte sich das Mäd­chen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst.” (W. u. J. Grimm, KHM 24)

In Frau Holle begeg­net uns die in allen Kul­turen und zu allen Zeit­en unter vie­len Namen verehrte Erd- und Unter­welts­göt­tin, die die Ver­stor­be­nen zu sich nimmt und die unge­bore­nen See­len hütet. Immer ist sie weib­lich. Als Hel ist sie in der nordis­chen Mytholo­gie bekan­nt und herrscht in der Unter­welt, wovon unser Wort Hölle kommt. Doch hier im Mantra und im Märchen wird uns eine ganz andere, paradiesis­che Land­schaft geschildert. Sie ähnelt Bericht­en von Men­schen mit Nah­toder­fahrun­gen. Mit dem vierten Mantra nach der Hal­b­jahress­chwelle sind wir auf dem Weg in die (eigene) Tiefe in ein­er neuen Sphäre angekom­men. Es ist die Welt der Seele und der Leben­skräfte, die als erste hin­ter dem nur materiellen, dem Sin­nen­schleier sicht­bar wird.

Im Märchen ist es die erste Auf­gabe des Mäd­chens, die fer­tig geback­e­nen Brote aus dem Ofen zu holen und danach die reifen Äpfel vom Baum zu schüt­teln und aufzuschicht­en. Im Mantra begeg­nen uns bei­de Aspek­te eben­so, jedoch in ent­ge­genge­set­zter Rei­hen­folge. Zunächst zum Märchen: Das Mäd­chen ern­tet die Ergeb­nisse ihres Erden­lebens: Brot und Äpfel. Das Brot ist Bild des Leibes und der durch den Leib ver­mit­tel­ten Wahrnehmungswelt. Es ist das durch jeden Sin­neskanal hin­aus in die Welt tas­tend füh­lende, aufnehmende weib­liche Prinzip des Seins. Der Apfel ist Bild der befruch­t­en­den, erneuern­den Erken­nt­nis, des schöpferisch denk­enden männlichen Prinzips. (In der Paradies­geschichte des Alten Tes­ta­ments ist der Apfel Bild der Erken­nt­nis und Iduna hütet in der ger­man­is­chen Mytholo­gie die Äpfel der ewigen Jugend.) Das Brot, der Leib für das Leben in der Geist­welt, ist fer­tig geback­en, ist aus­ge­bildet. Die Äpfel, die Erken­nt­n­is­früchte des ver­gan­genen Erden­lebens, sind reif zur Ernte.

Nun zum Mantra: Der geschilderte Prozess vol­lzieht sich im See­len­son­nen­licht, entsprechend dem Märchen, indem extra erwäh­nt wird, dass die Sonne scheint. Des Denkens reife Früchte lassen sich eigentlich nur als Äpfel vorstellen. Es sind unsere Lern­er­fahrun­gen, die Früchte unser­er Erken­nt­nis, die wir während des Erden­lebens erwirk­ten, die reifen, sich entwick­eln, die wir aber nicht ern­ten kön­nen. Die Voraus­set­zun­gen, die neuen Erken­nt­nisse im Leben frucht­bar zu machen, sind oft nicht oder nur zum Teil gegeben. Erst eine fol­gende Inkar­na­tion wird diese Möglichkeit­en schaf­fen. Beson­ders deut­lich wird dies durch Früchte, die durch eine zum Tod führende Krankheit reifen, oder in ein­er Inkar­na­tion mit behin­dertem Körper.

Nach diesen bild­haft imag­i­na­tiv­en Zeilen ändert sich der Sprach­duk­tus des Mantras. Es fol­gt eine knappe Sachaus­sage, eine nicht anzweifel­bare Infor­ma­tion: Alles Fühlen, ver­wan­delt sich in Sicher­heit, in die Sicher­heit des Selb­st­be­wusst­seins — des sicheren Bewusst­seins vom eige­nen Selb­st. Wie geht das denn? Gewöhn­lich wird das Fühlen als das Gegen­teil von Sicher­heit und Selb­st­be­wusst­sein erlebt. “Fühlen” zeigt sich als ewig wan­del­bar, fließend wie Wass­er und wird deshalb auch als unzu­ver­läs­sig, unvorherse­hbar und unsich­er erlebt. Schon die Frage nach dem gegen­wär­ti­gen Gefühl bewirkt, dass es sich verän­dert, zer­rin­nt. Dieses Fühlen ist nun zu ein­er Sicher­heit gewor­den, zu etwas fes­tem, auf das ich mich ver­lassen kann. Das Fühlen ist nun zur Sicher­heit meines Bewusst­seins von mir Selb­st geworden.

Im irdis­chen Leib ver­mit­telt uns der Tastsinn die unun­ter­broch­ene Sicher­heit der eige­nen Exis­tenz. Auch alle anderen Sin­neser­fahrun­gen ver­mit­teln uns let­ztlich die Erfahrung, der Welt gegenüberzuste­hen als ein eigenes Wesen. Diese Möglichkeit ent­fällt nach dem Tod bzw. im Land der Seele, in dem wir uns mit dem Mantra befind­en. Ent­fällt die Physis, so bleibt das Fühlen ohne Wahrnehmungsmöglichkeit und muss sich wan­deln, soll das indi­vidu­elle Selb­st­be­wusst­sein erhal­ten bleiben. Diese Trans­for­ma­tion hat stattge­fun­den. Im Märchen von Frau Holle erkenne ich im Brot, dass in der Hitze der Emo­tio­nen geback­en wurde und nun fer­tig ist, diese Selb­st­be­wusst­seins Sicher­heit wieder. In der Umgangssprache ist das Bild des fer­ti­gen Brotes für ein gelun­ge­nes Pro­jekt erhal­ten geblieben. Wenn Zweifel daran beste­hen, fra­gen wir: “Bekommst du es geback­en?” und fra­gen damit nach dem Selb­st­be­wusst­sein der Per­son in dieser Situation.

Entspringt die Aus­sage des zu Selb­st­be­wusst­seins Sicher­heit ver­wan­del­ten Füh­lens dem eige­nen Erleben, spricht daraus eine hohe Kom­pe­tenz der Selb­st­führung. Nur wer sich dem Leben stellt und gle­ichzeit­ig die in Bewe­gung kom­menden Gefüh­le im Gle­ichgewicht hält, kann von sich sagen, dass sein Fühlen zu Selb­st­be­wusst­seins Sicher­heit gewor­den ist. Es ist jemand, der mit bei­den Beinen auf dem Boden ste­ht und gel­ernt hat, sich zu meis­tern. Ein Men­sch wie dieser hat die Anerken­nung ander­er Men­schen nicht mehr nötig, um selb­st­be­wusst zu sein.

Der nächst Schritt im Mantra ist das Empfind­en von Freude über das im Herb­st stat­tfind­ende Geis­terwachen. Was ist damit gemeint? Der Herb­st ist die Zeit des Ster­bens auf der Erde. Es ist die Zeit der Ein­wei­hung in die Todesmys­te­rien. Das Geis­terwachen kann ich als Ein­wei­hungser­leb­nis ver­ste­hen. Freude­voll kann ich empfind­en wie nach und nach, je mehr von mir die irdis­chen Bindun­gen wie welkes Laub abfall­en, ich als Geist erwache. Freude­voll, voller Freude, erfüllt von Freude, von Leichte statt irdis­ch­er Schwere ist dieser neue Zus­tand. Das Mantra spricht von Empfind­en, nicht vom Fühlen. Damit wird gesagt, dass es sich um ein Erleben der Empfind­ungsseele han­delt. Sie bildet mit dem Empfind­ungsleib sozusagen den Über­gang der kör­per­lichen Sin­neser­fahrung zum seel­is­chen Erleben der­sel­ben. Hier ist die Gren­ze, wo sich veg­e­ta­tives Kör­p­er-Leben wan­delt zum Licht des Bewusst­seins, zum Geist, der nun seel­isch erlebt. Erlebe ich den Herb­st mit den gel­ben, fal­l­en­den Blät­tern als Abwärts­be­we­gung, so steigt in der Seele eine Freude auf, die ich als Aufwärts­be­we­gung füh­le. Dieser Gegen­be­we­gung entspricht die bild­hafte Redewen­dung: „Stirbt auf der Erde ein Men­sch, wird im Him­mel ein Engel geboren“. Das ist des Herb­stes Geisterwachen.

Hier ste­ht im Mantra ein Dop­pelpunkt. Der Geist, der im Herb­st erwacht, wird nun genauer geschildert. Dieser Geist schaut in die Zukun­ft und schildert für das Außen- und Innen­er­leben eine kom­plett ent­ge­genge­set­zte Sit­u­a­tion. Der nach dem Herb­st fol­gende Win­ter wird in der Seele den Som­mer weck­en. Der Gegen­satz kön­nte nicht größer sein. Wenn draußen alles in Frost und Eis erstar­rt, begin­nt in der Seele der Som­mer, das üppige Wach­sen, Blühen und Fruchten.

Das Märchen erzählt eben­so vom Win­ter. Das Mäd­chen, dem es bei Frau Holle an nichts fehlen soll, muss die Bet­ten schüt­teln, damit es auf der Erde schneit. Früher wurde das Alter nicht nach Jahren, son­dern nach Som­mern gezählt. Der Win­ter wird einen neuen Zyk­lus der Seele weck­en, einen neuen See­len­som­mer. Das Mäd­chen geht am Schluss zurück auf die Erde, in eine neue Inkar­na­tion — beschenkt mit dem, was sie sich erar­beit­et hat. Auch im Mantra lässt sich die Schlus­saus­sage als Ankündi­gung eines neuen Wach­s­tum­szyk­lus der Seele lesen.

Rudolf Stein­er verbindet mit dem Win­ter-Hal­b­jahr das Denken, mit dem Som­mer-Hal­b­jahr die Wahrnehmung (Vor­wort zur Aus­gabe 1912/13). Das bedeutet, dass das Denken (der Win­ter) die Möglichkeit seel­is­ch­er Wahrnehmung (den See­len­som­mer) weck­en wird. Win­ter und Som­mer wer­den in diesem Mantra mit der Seele, dem See­len­som­mer in Verbindung gebracht. Anders der Herb­st: hier ist vom Geist die Rede. Der Geist erwacht durch den Herb­st-Prozess, sozusagen aus sich her­aus. Die Seele muss dage­gen geweckt wer­den. Ist der Geist durch das Ster­ben des Lebens im Herb­st aus der Verza­uberung in die Materie erwacht, betätigt er sich im näch­sten Schritt denk­end. Dann ist es Win­ter. Durch das Denken wirkt der Geist in mir weck­end, anre­gend auf die Seele. Sie wird nun begin­nen, vielgestaltige Bilder, Vorstel­lun­gen her­vorzubrin­gen, die sie anschaut, in denen und mit denen sie lebt. Dann herrscht in mir der Seelensommer.

Der Geist wird der Jahreszeit des Herb­stes zuge­hörig geschildert. So wie der Herb­st auf alle Men­schen wirkt, ist der Geist eine uni­ver­sale, makrokos­mis­che Kraft. Der See­len­som­mer wird dage­gen in mir geweckt. Hier geht es um einen indi­vidu­ellen Prozess im Mikrokos­mos mein­er Seele. Ver­mit­telt wird die Wirkung durch den Win­ter, das Denken. Wie der Herb­st ist der Win­ter, das Denken, eine über­ge­ord­nete Kraft. Gedanken, die ein­mal gefasst und geäußert — veröf­fentlicht — wur­den, wirken der Möglichkeit nach in der ganzen Men­schheit. Aber nur in ein­er indi­vidu­ellen Seele kön­nen die Gedanken neues Er-Leben, einen neuen See­len­som­mer wecken.