30 d
Es sprießen mir im Seelensonnenlicht
Des Denkens reife Früchte,
In Selbstbewusstseins Sicherheit
Verwandelt alles Fühlen sich.
Empfinden kann ich freudevoll
Des Herbstes Geisterwachen:
Der Winter wird in mir
Den Seelensommer wecken.
Das vierte apokalyptische Siegel
Das vierte apokalyptische Siegel im Jahreskreis (als Ei orientiert)
Im Mantra heißt es, dass des Denkens reife Früchte dem Ich-Sprecher sprießen. Das vierte Siegelbild zeigt die beiden Tempelsäulen Jachin und Boas, die der uralten, jüdischen Kabbala-Weisheit entstammen. Diese Säulen sind Darstellungen reifer Denk-Früchte. Ferner weist das Buch auf die Kabbala hin, auf die zehn Sephiroth. Rudolf Steiner sagt, es gibt in der geistigen Welt ein Buch mit zehn Seiten, das alle Weisheit der Welt enthält: „Das Lesen in den geistigen Urbildern nennt man im Okkultismus das Lesen des ‘zehnblättrigen Buches´“ (Vortrag vom 3.4.1905 in Berlin) Mit den zehn Blättern wird auf die zehn Sephiroth der Kabbala angespielt, auf zehn Emanationen des Lichtes – mithin der Weisheit.
Rudolf Steiner selber deutet die Säulen des Siegels in Bezug auf den Blutkreislauf: „Siegel IV stellt unter anderem zwei Säulen dar, deren eine aus dem Meer, die andere aus dem Erdreich aufragt. In diesen Säulen ist das Geheimnis angedeutet von der Rolle, welche das rote (sauerstoffreiche) Blut und das blaurote (kohlensäurereiche) Blut in der menschlichen Entwicklung spielen. Das menschliche «Ich» macht im Erdenkreislauf seine Entwicklung dadurch durch, daß es sein Leben physisch zum Ausdruck bringt in der Wechselwirkung zwischen rotem Blut, ohne das es kein Leben, und dem blauen Blut, ohne das es keine Erkenntnis gäbe. Blaues Blut ist der physische Ausdruck der Erkenntnis gebenden Kräfte, die aber für sich allein in ihrer menschlichen Form mit dem Tode zusammenhängen, und rotes Blut ist der Ausdruck des Lebens, das aber in der menschlichen Form keine Erkenntnis für sich allein geben könnte. Beide in ihrem Zusammenwirken stellen dar den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens, oder auch die beiden Säulen, auf denen sich das Leben und die Erkenntnis des Ich fortentwickeln bis zu jenem Vollkommenheitgrade, wo der Mensch Eins werden wird mit den universalen Erdenkräften. Dieser letztere Zustand der Zukunft kommt auf dem Siegel durch den Oberleib zur Anschauung, der aus Wolken besteht, und durch das Gesicht, das sich die geistigen Kräfte der Sonne angeeignet hat. Das «Wissen» wird dann der Mensch nicht mehr von außen in sich aufnehmen, sondern in sich «verschlungen» haben, was in dem Buche in der Mitte des Siegels angedeutet ist. Erst durch solches «Verschlingen» auf höherer Daseinsstufe öffnen sich die sieben Siegel des Buches, wie sie auch auf Siegel III angedeutet sind. In der «Offenbarung St. Johannis» findet man darüber die bedeutungsvollen Worte: «Und ich nahm das Büchlein aus des Engels Hand und verzehrte es.….»“ (Lit.: GA 284, S. 93f)
Für mich steht das Sommer-Halbjahr für die rote Jachin-Säule. Diese Säule ist in der Kabbala mit herabströmendem Wasser, mit der aus der geistigen Welt stammenden, sich auf der Erde in allen Schöpfungen verwirklichenden Weisheit verbunden. In der Wahrnehmungswelt, für die das Sommer-Halbjahr im Seelenkalender steht, kommt diese Weisheit zur Erscheinung. Der Sechsstern, der laut Rudolf Steiner das Zeichen des Makrokosmos ist, deutet auf dem Siegelbild auf seine Weise darauf hin, ebenso die Segenshand. Das rote, sauerstoffreiche Blut strömt im Körperkreislauf ebenso vom Herzen zur Peripherie, hauptsächlich nach unten — wie der Abwärtsstrom des Wassers der Jachin-Säule.
Das Winter-Halbjahr steht dementsprechend für die Boas-Säule. Mit ihr ist das auflodernde Feuer verbunden. Feuer ist das Bild der im Menschen aufsteigenden Lebenskraft, die sich zu Bewusstseinskraft wandelt. Träger der Bewusstseinskraft ist das venöse Blut, das im Körper von der Peripherie zum Herzen strömt — eine überwiegend aufsteigende Bewegung. Der Bewusstseins-Prozess geschieht im Menschen, im Mikrokosmos, worauf der Fünfstern und die Hand, die das Buch hält hinweisen. Das Sonnensymbol deutet die mittlere Säule an, die in der Kabbala Säule der Milde genannt wird, und die das Ergebnis des Zusammenwirkens der beiden Grundkräfte ist.
Stellen die Halbjahre die Säulen dar, steht der Jahreskreis in der Ei-Orientierung. Mit diesem Ei ist eine Drittelung verbunden: der Mondbereich der Osterscholle, der Sonnenbereich und der Sternbereich. Im folgenden Zitat Rudolf Steiners, indem er gleichfalls über das vierte Siegel spricht, beschreibt die im Siegelbild enthaltene Drittelung: Sonnen-Geist, Regenbogen-Seele und die Säulen als die Feuerfüße, die mit dem Leib zusammenhängen.
„Dasjenige aber, was in unserer Zeit stark lebt, erscheint vor dem hellseherischen Auge des Apokalyptikers als jene Figur, die sich aus Wolken herausbildet, sonnenähnliches Gesicht hat, in einen Regenbogen übergeht, und feurige Füße hat, von denen der eine auf dem Meer, der andere auf der Erde steht (Off 10,1–2 LUT). Man möchte sagen, das ist in der Tat die bedeutsamste Erscheinung, die sich die gegenwärtige Menschenseele vor Augen stellen soll. Denn in dem, was oben wolkengeborenes Antlitz ist, liegen die Gedanken, die dem Geisterlande angehören; in dem, was Regenbogen ist, liegt die Gefühlswelt der Menschenseele, die der Seelenwelt angehört; in den feurigen Füßen, die aus der Kraft der meerüberdeckten Erde heraus ihre Kraft erhielten, liegt das, was im Leibe des Menschen enthalten ist, der mit der physischen Welt zusammengehört.
Wir werden da, ich möchte sagen, auf das eigentliche Kulturgeheimnis der Gegenwart hingewiesen, das sich ja zunächst so äußert, daß die Menschen nicht gleich dreigespalten erscheinen, sondern so erscheinen — was ja in unserer jetzigen Zeit nun mit Händen zu greifen ist -, daß wir Wolkenmenschen haben, die nur denken können, während verkümmert sind die beiden anderen Teile: Regenbogen und Feuerfüße, daß wir Regenbogenmenschen haben, bei denen vorzugsweise das Gefühl ausgebildet ist, die auch zum Beispiel die Anthroposophie nur mit dem Gefühl erfassen können, nicht mit dem Verstande. Aber sie sind nicht nur in der anthroposophischen Gesellschaft, sondern auch draußen in der Welt vorhanden. Diese Menschen können die Welt nur mit dem Gefühl erfassen; bei ihnen ist verkümmert Denken und Wille, aber das Gefühl ist besonders ausgebildet. Dann gibt es heute Menschen, die eigentlich so handeln, wie wenn sie bloß den Willen hypertrophiert ausgebildet hätten. Verkümmert ist ihr Denken und Gefühl: Stiermäßig handelnde Menschen, nur den unmittelbar äußeren Impulsen hingegeben — die feuerfüßigen Menschen.“ (Lit.: GA 346, S. 202f)
Hier beschreibt Rudolf Steiner schließlich das Bild des vierten Siegels als Bild der zukünftigen Menschengestalt: „Aber es gibt noch eine höhere Entwickelung. Der Mensch stammt aus noch höheren Welten, und er wird zu diesen höheren Welten wieder hinaufsteigen. Und seine Gestalt, wie sie der Mensch heute hat, wird in die Welt dann verschwunden sein. Was heute draußen in der Welt ist — die einzelnen Buchstaben, aus denen der Mensch zusammengesetzt ist -, das alles wird er dann wiederaufgenommen haben: seine Gestalt wird sich identifiziert haben mit der Weltengestalt. In einer gewissen trivialen Darstellung der Theosophie lehrt man und redet davon, daß man den Gott in sich selbst suchen solle. Aber wer den Gott finden will, muß ihn in den Werken suchen, die ausgebreitet sind im Weltall. Nichts in der Welt ist bloß Materie — das ist nur scheinbar -, in Wirklichkeit ist alle Materie der Ausdruck von Geistigkeit, eine Kundschaft von der Wirksamkeit Gottes. Und der Mensch wird sein Wesen gleichsam ausdehnen im Laufe kommender Zeiten; mehr und mehr wird er sich identifizieren mit der Welt, so daß man ihn darstellen kann, indem man statt der Menschengestalt die Gestalt des Kosmos setzt. Das sehen Sie auf dem vierten Siegel mit dem Felsen, dem Meer und den Säulen. Das was heute als Wolken die Welt durchzieht, wird seine Materie dazu hergeben, um den Leib des Menschen zu gestalten. Die Kräfte, die heute bei den Geistern der Sonne sind, werden in der Zukunft dem Menschen dasjenige liefern, was in einer unendlich viel höheren Art seine geistigen Kräfte ausbilden wird. Diese Sonnenkraft ist es, zu welcher der Mensch hinstrebt. Im Gegensatz zu der Pflanze, die ihren Kopf, die Wurzel, zum Mittelpunkt der Erde hinsenkt, wendet er seinen Kopf der Sonne zu; und er wird ihn vereinigen mit der Sonne und höhere Kräfte empfangen. Das haben Sie dargestellt in dem Sonnengesicht, das auf dem Wolkenleibe, auf dem Felsen, den Säulen ruht. Selbstschöpferisch wird dann der Mensch geworden sein; und als das Symbol der vollkommenen Schöpfung umgibt den Menschen der farbige Regenbogen. Auch in der Apokalypse des Johannes können Sie ein ähnliches Siegel finden. In der Mitte der Wolken befindet sich ein Buch. Die Apokalypse sagt, daß der Eingeweihte dies Buch verschlingen muß. Damit ist auf die Zeit hingewiesen, wo der Mensch nicht nur äußerlich die Weisheit empfängt, sondern wo er sich mit ihr wie heute mit der Nahrung durchdringen wird, wo er selbst eine Verkörperung der Weisheit sein wird.“ (Lit.: GA 284, S. 76)
Was verkündet mir das Mantra 30 d?
Das Mantra 30 d lässt mich eine wunderbare Stimmung erleben! Der Ich-Sprecher ist in einer Zauberwelt angekommen! Reife Früchte sprießen, sie kommen sozusagen schon reif zur Erscheinung und benötigen ‑anders als sonst — keine lange Entwicklungszeit. Die Seelensonne erfüllt und durchtränkt alles mit Licht.
Diese Stimmung erinnert mich an das Märchen von Frau Holle der Gebrüder Grimm (W. u. J. Grimm, KHM 24). Ich werde es ausführlicher zitieren, weil es bis in den Wortlaut hinein mit dem Mantra übereinstimmt:
Nachdem das Mädchen voller Verzweiflung in den Brunnen gesprungen ist, um die hineingefallene Spule zu holen, heißt es weiter: “Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und vieltausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: <Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.> Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel, und rief ihm zu: <Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.> Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte, bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: <Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir’s gut gehn. Du mußt nur achtgeben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.> Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst.” (W. u. J. Grimm, KHM 24)
In Frau Holle begegnet uns die in allen Kulturen und zu allen Zeiten unter vielen Namen verehrte Erd- und Unterweltsgöttin, die die Verstorbenen zu sich nimmt und die ungeborenen Seelen hütet. Immer ist sie weiblich. Als Hel ist sie in der nordischen Mythologie bekannt und herrscht in der Unterwelt, wovon unser Wort Hölle kommt. Doch hier im Mantra und im Märchen wird uns eine ganz andere, paradiesische Landschaft geschildert. Sie ähnelt Berichten von Menschen mit Nahtoderfahrungen. Mit dem vierten Mantra nach der Halbjahresschwelle sind wir auf dem Weg in die (eigene) Tiefe in einer neuen Sphäre angekommen. Es ist die Welt der Seele und der Lebenskräfte, die als erste hinter dem nur materiellen, dem Sinnenschleier sichtbar wird.
Im Märchen ist es die erste Aufgabe des Mädchens, die fertig gebackenen Brote aus dem Ofen zu holen und danach die reifen Äpfel vom Baum zu schütteln und aufzuschichten. Im Mantra begegnen uns beide Aspekte ebenso, jedoch in entgegengesetzter Reihenfolge. Zunächst zum Märchen: Das Mädchen erntet die Ergebnisse ihres Erdenlebens: Brot und Äpfel. Das Brot ist Bild des Leibes und der durch den Leib vermittelten Wahrnehmungswelt. Es ist das durch jeden Sinneskanal hinaus in die Welt tastend fühlende, aufnehmende weibliche Prinzip des Seins. Der Apfel ist Bild der befruchtenden, erneuernden Erkenntnis, des schöpferisch denkenden männlichen Prinzips. (In der Paradiesgeschichte des Alten Testaments ist der Apfel Bild der Erkenntnis und Iduna hütet in der germanischen Mythologie die Äpfel der ewigen Jugend.) Das Brot, der Leib für das Leben in der Geistwelt, ist fertig gebacken, ist ausgebildet. Die Äpfel, die Erkenntnisfrüchte des vergangenen Erdenlebens, sind reif zur Ernte.
Nun zum Mantra: Der geschilderte Prozess vollzieht sich im Seelensonnenlicht, entsprechend dem Märchen, indem extra erwähnt wird, dass die Sonne scheint. Des Denkens reife Früchte lassen sich eigentlich nur als Äpfel vorstellen. Es sind unsere Lernerfahrungen, die Früchte unserer Erkenntnis, die wir während des Erdenlebens erwirkten, die reifen, sich entwickeln, die wir aber nicht ernten können. Die Voraussetzungen, die neuen Erkenntnisse im Leben fruchtbar zu machen, sind oft nicht oder nur zum Teil gegeben. Erst eine folgende Inkarnation wird diese Möglichkeiten schaffen. Besonders deutlich wird dies durch Früchte, die durch eine zum Tod führende Krankheit reifen, oder in einer Inkarnation mit behindertem Körper.
Nach diesen bildhaft imaginativen Zeilen ändert sich der Sprachduktus des Mantras. Es folgt eine knappe Sachaussage, eine nicht anzweifelbare Information: Alles Fühlen, verwandelt sich in Sicherheit, in die Sicherheit des Selbstbewusstseins — des sicheren Bewusstseins vom eigenen Selbst. Wie geht das denn? Gewöhnlich wird das Fühlen als das Gegenteil von Sicherheit und Selbstbewusstsein erlebt. “Fühlen” zeigt sich als ewig wandelbar, fließend wie Wasser und wird deshalb auch als unzuverlässig, unvorhersehbar und unsicher erlebt. Schon die Frage nach dem gegenwärtigen Gefühl bewirkt, dass es sich verändert, zerrinnt. Dieses Fühlen ist nun zu einer Sicherheit geworden, zu etwas festem, auf das ich mich verlassen kann. Das Fühlen ist nun zur Sicherheit meines Bewusstseins von mir Selbst geworden.
Im irdischen Leib vermittelt uns der Tastsinn die ununterbrochene Sicherheit der eigenen Existenz. Auch alle anderen Sinneserfahrungen vermitteln uns letztlich die Erfahrung, der Welt gegenüberzustehen als ein eigenes Wesen. Diese Möglichkeit entfällt nach dem Tod bzw. im Land der Seele, in dem wir uns mit dem Mantra befinden. Entfällt die Physis, so bleibt das Fühlen ohne Wahrnehmungsmöglichkeit und muss sich wandeln, soll das individuelle Selbstbewusstsein erhalten bleiben. Diese Transformation hat stattgefunden. Im Märchen von Frau Holle erkenne ich im Brot, dass in der Hitze der Emotionen gebacken wurde und nun fertig ist, diese Selbstbewusstseins Sicherheit wieder. In der Umgangssprache ist das Bild des fertigen Brotes für ein gelungenes Projekt erhalten geblieben. Wenn Zweifel daran bestehen, fragen wir: “Bekommst du es gebacken?” und fragen damit nach dem Selbstbewusstsein der Person in dieser Situation.
Entspringt die Aussage des zu Selbstbewusstseins Sicherheit verwandelten Fühlens dem eigenen Erleben, spricht daraus eine hohe Kompetenz der Selbstführung. Nur wer sich dem Leben stellt und gleichzeitig die in Bewegung kommenden Gefühle im Gleichgewicht hält, kann von sich sagen, dass sein Fühlen zu Selbstbewusstseins Sicherheit geworden ist. Es ist jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht und gelernt hat, sich zu meistern. Ein Mensch wie dieser hat die Anerkennung anderer Menschen nicht mehr nötig, um selbstbewusst zu sein.
Der nächst Schritt im Mantra ist das Empfinden von Freude über das im Herbst stattfindende Geisterwachen. Was ist damit gemeint? Der Herbst ist die Zeit des Sterbens auf der Erde. Es ist die Zeit der Einweihung in die Todesmysterien. Das Geisterwachen kann ich als Einweihungserlebnis verstehen. Freudevoll kann ich empfinden wie nach und nach, je mehr von mir die irdischen Bindungen wie welkes Laub abfallen, ich als Geist erwache. Freudevoll, voller Freude, erfüllt von Freude, von Leichte statt irdischer Schwere ist dieser neue Zustand. Das Mantra spricht von Empfinden, nicht vom Fühlen. Damit wird gesagt, dass es sich um ein Erleben der Empfindungsseele handelt. Sie bildet mit dem Empfindungsleib sozusagen den Übergang der körperlichen Sinneserfahrung zum seelischen Erleben derselben. Hier ist die Grenze, wo sich vegetatives Körper-Leben wandelt zum Licht des Bewusstseins, zum Geist, der nun seelisch erlebt. Erlebe ich den Herbst mit den gelben, fallenden Blättern als Abwärtsbewegung, so steigt in der Seele eine Freude auf, die ich als Aufwärtsbewegung fühle. Dieser Gegenbewegung entspricht die bildhafte Redewendung: „Stirbt auf der Erde ein Mensch, wird im Himmel ein Engel geboren“. Das ist des Herbstes Geisterwachen.
Hier steht im Mantra ein Doppelpunkt. Der Geist, der im Herbst erwacht, wird nun genauer geschildert. Dieser Geist schaut in die Zukunft und schildert für das Außen- und Innenerleben eine komplett entgegengesetzte Situation. Der nach dem Herbst folgende Winter wird in der Seele den Sommer wecken. Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Wenn draußen alles in Frost und Eis erstarrt, beginnt in der Seele der Sommer, das üppige Wachsen, Blühen und Fruchten.
Das Märchen erzählt ebenso vom Winter. Das Mädchen, dem es bei Frau Holle an nichts fehlen soll, muss die Betten schütteln, damit es auf der Erde schneit. Früher wurde das Alter nicht nach Jahren, sondern nach Sommern gezählt. Der Winter wird einen neuen Zyklus der Seele wecken, einen neuen Seelensommer. Das Mädchen geht am Schluss zurück auf die Erde, in eine neue Inkarnation — beschenkt mit dem, was sie sich erarbeitet hat. Auch im Mantra lässt sich die Schlussaussage als Ankündigung eines neuen Wachstumszyklus der Seele lesen.
Rudolf Steiner verbindet mit dem Winter-Halbjahr das Denken, mit dem Sommer-Halbjahr die Wahrnehmung (Vorwort zur Ausgabe 1912/13). Das bedeutet, dass das Denken (der Winter) die Möglichkeit seelischer Wahrnehmung (den Seelensommer) wecken wird. Winter und Sommer werden in diesem Mantra mit der Seele, dem Seelensommer in Verbindung gebracht. Anders der Herbst: hier ist vom Geist die Rede. Der Geist erwacht durch den Herbst-Prozess, sozusagen aus sich heraus. Die Seele muss dagegen geweckt werden. Ist der Geist durch das Sterben des Lebens im Herbst aus der Verzauberung in die Materie erwacht, betätigt er sich im nächsten Schritt denkend. Dann ist es Winter. Durch das Denken wirkt der Geist in mir weckend, anregend auf die Seele. Sie wird nun beginnen, vielgestaltige Bilder, Vorstellungen hervorzubringen, die sie anschaut, in denen und mit denen sie lebt. Dann herrscht in mir der Seelensommer.
Der Geist wird der Jahreszeit des Herbstes zugehörig geschildert. So wie der Herbst auf alle Menschen wirkt, ist der Geist eine universale, makrokosmische Kraft. Der Seelensommer wird dagegen in mir geweckt. Hier geht es um einen individuellen Prozess im Mikrokosmos meiner Seele. Vermittelt wird die Wirkung durch den Winter, das Denken. Wie der Herbst ist der Winter, das Denken, eine übergeordnete Kraft. Gedanken, die einmal gefasst und geäußert — veröffentlicht — wurden, wirken der Möglichkeit nach in der ganzen Menschheit. Aber nur in einer individuellen Seele können die Gedanken neues Er-Leben, einen neuen Seelensommer wecken.