Die Gegensprüche 9 I (großes i) und 35 i
9 I
Vergessend meine Willenseigenheit Erfüllet Weltenwärme sommerkündend Mir Geist und Seelenwesen; Im Licht mich zu verlieren Gebietet mir das Geistesschauen, Und kraftvoll kündet Ahnung mir: Verliere dich, um dich zu finden. |
35 i
Kann ich das Sein erkennen, Dass es sich wiederfindet Im Seelenschaffensdrange? Ich fühle, dass mir Macht verlieh´n, Das eigne Selbst dem Weltenselbst Als Glied bescheiden einzuleben. .… |
Die Eurythmieformen zu den Mantren 9 I (großes i) und 35 i
Über den Buchstaben “I”
Das I ist nach A und E der dritte und damit auch der mittlere der fünf Vokale im Alphabet. Die beiden hauptsächlichen Aspekte des I drücken sich schon in dessen graphischem Zeichen aus, in Linie und Punkt. Diese beiden Komponenten sind Polaritäten. Die Linie zeigt Verbindung und Entwicklung an, der Punkt steht fest und unwandelbar da und kann entweder initialer Anfang oder abschließendes Ende sein — ganz wie der Same am Anfang der Pflanzenentwicklung steht und zugleich ihr Endergebnis darstellt.
Die neun Buchstaben des lateinischen Alphabets zeigen von A bis I eine bemerkenswerte Symmetrie.
Die Buchstaben A bis I mit dem Neunstern des Enneagramms
Gelb: Vokale; Grün: Stoßlaute; Rot: Blaselaute
Nicht nur steht das E genau in der Mitte zwischen A und I, auch die Konsonanten wechseln regelmäßig zwischen Stoß- und Blaselaut, also zwischen Erd- und Feuerlaut ab (sofern das C als Zischlaut verstanden wird). Betrachte ich die waagerecht auf gleicher Höhe liegenden Konsonanten, so bilden Stoß- und Blaselaute jeweils gemischte Paare: B — H; C — G; D — F. Ihre entgegengesetzten Lautqualitäten sich gegenseitig auszugleichen. Beteiligt sind die drei weichen, stimmhaften Stoßlaute B, D, G und auch die Blaselaute F, C, H. Bei den Blaselauten fällt auf, dass sie noch eine starke Lebendigkeit, eine Variabilität des Klanges in sich tragen. Das C ist den Stoßlauten nahe, das H allen Vokalen und das F dem V und W.
Der griechische Buchstabe des I‑Lautes ist das Iota (Ι, ι), das aus dem phönizischen Halbvokal ‘Jod’ hervorgegangen ist, was mit ‘Hand’ übersetzt wird. Im Jod wurde die schöpferisch deutende, zur Offenbarung bringende Hand erlebt, wie es im Deutschen Wort ‘Finger’ noch nachempfunden werden kann. Hermann Beckh schreibt: “So wie Aleph im Hebräischen das Zeichen des Unoffenbaren, Potentiellen, so ist Jod das Zeichen der Offenbarung, der Manifestation, der göttlichen Weltbejahung. … Als Ausdruck des Überganges des Potentiellen ins Aktuelle des aktiven Handelns steht J auch bedeutungsvoll als Anlaut des hebräischen ‘Jad’, die ‘Hand’ … Der Funke des Göttlich-Geistigen, wie er hier aus Jahves Hand auf den Finger Adams überspringt, das Prinzip der sich offenbarenden göttlichen Aktivität ist es, was der Hebräer beim Jod, da wo es in seinem höchsten geistigen Sinne gebraucht wird, erlebt. Wie Aleph das in sich ruhende Ewig-Göttliche, so ist Jod dieses Göttlich-Ewige, Außerräumliche, Außerzeitliche — die Unendlichkeit, wie auch das Unendlich-Kleine, Punktuelle, der Punkt (der ja im Hebräischen durch Jod dargestellt wurde) — da, wo dieses Außerräumliche, Außerzeitliche, sich anschickt, seinen Impuls in die Welt des räumlich und zeitlich Bedingten hineinzustrahlen, es ist der archimedische Punkt, … von dem aus alles Weltgeschehen seinen Ausgang nimmt, der Ich-Punkt, der sich dann zur Welt erweitert.” (in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 201)
Das I ist auch der Strich, die Aufrichte, der Lichtstrahl, der als Blitz auf das Ziel hinschießt. Im I erstirbt das Göttliche und erscheint als Licht des Ich. Das I drückt Hochspannung aus, es treibt auf die Spitze. Das I ist der hochfliegende Ikarus aus der griechischen Mythologie, der dann doch der Schwerkraft unterliegt und abstürzt. Ebenso besteht für den mit dem Ich begabte Menschen stets die Gefahr, ins Ego zu fallen. Erst seit der Ich-Geburt auf Golgatha, wie Rudolf Steiner den Sieg des Christus über den Tod unter anderem charakterisiert, ist es möglich, ein Ikarus zu werden, sich innerlich zu erheben und erkennend zu fliegen, ohne abzustürzen in Phantasterei oder pedantisches Verhaftetsein an die materiellen Dinge der Welt.
Das I ist das Licht, das sowohl im Außen als Sonnen- oder Sternenlicht leuchtet, als auch im Menschen. Johannes sagt im Prolog seines Evangeliums über dieses Licht:
“Im Innen-Raum der Urkräfte war und ist wirkend der Logos,
und der Logos ist in Bewegung auf den Gott hin,
und ein göttliches Wesen ist der Logos,
dieser ist in Bewegung auf den Gott hin.
Alles ist durch Ihn geworden
und ohne Ihn ist auch nicht ein Einzelnes geworden.
Was geworden ist, in Ihm war und ist es Leben
und das Leben ist das Licht der Menschen,
und das Licht scheint im Innern der Finsternis
und die Finsternis hat es nicht überwältigt.”
(Joh. 1,1–5 in der Übersetzung von Elsbeth Weymann, Wege im Buch der Bücher, S. 120)
Das I ist der Laut des Urbilds des Menschen, des Ichs. So verwundert es nicht, dass in der Genesis die Geister der Persönlichkeit, die Archai oder Urbeginne ‘Jom’ genannt werden. Rudolf Steiner sagt: “Da, wo die Elohim durch ihre höheren ordnenden Kräfte gewirkt hatten, dass Licht werde, da stellten sie an ihren Platz Jom, die erste Wesenheit, den ersten der Zeitgeister oder Archai. … So sind diese geistigen Wesenheiten die wir Geister der Persönlichkeit oder Urbeginne nennen, dasselbe, was da als Zeiträume, als Tag, als Jom genannt wird.” (GA 122, in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 202f) Im obigen Zitat aus dem Johannesevangelium erscheint der Logos in zielgerichteter Bewegung und gleichzeitig vollendet als Gott. Der Logos zeigt sich dadurch mit der Zeit verwandt, die in der linearen und zyklischen Zeit ebenso diese beiden Aspekte in sich vereint. Auch das I steht mit der Zeit-Macht in besonders engem Zusammenhang, worauf die Überlieferung zur ägyptischen Göttin Isis hinweist.
Rudolf Steiner sagt über das I in Bezug zum Menschen: “Sprechen wir ein I, so haben wir nur das rechte Bild, wenn wir in diesem I sehen die Befestigung unseres Geistigen in uns selbst. … Wer das I fühlt, der weiß, … dass, indem das I ausgesprochen wird, der Mensch seine Wesenheit selber in den Raum hineinstellt.” Und: “Man betont, dass man sich fest in seinen Knochen fühlt.” (nach Dubach Donath, Die Grundelemente der Eurythmie, in: Die Sprache der Laute, S. 187) Das markanteste Beispiel dafür ist unser Wort ‘Ich’. Rudolf Steiner sagt: “Sie können bei einem I ganz genau fühlen, da macht sich der Mensch geltend. … Gewisse deutsche Dialekte haben sogar für das Ich: i, und da fühlt der Mensch am allerstärksten, wie das eigene Wesen sich in ihm geltend macht, wenn er i sagt: Na, nit du, i! Man springt erst in die Luft und stellt sich dann auf den Boden, wenn man dieses I sagt.” (GA 278, in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute)
Im alten slawischen Alphabet, Bukwiza, gab es für das I drei unterschiedliche Zeichen, drei Bildnisse: ‘Izhe’ (И — Иже), ‘Ihzei’ (i — iжеи) und ‘Initj’ (Ї — Їнить). Im heutigen russischen Alphabet ist nur noch der erste, ‘Izhe’ (И) übriggeblieben. Vor hundert Jahren wurde ‘Ihzei’ (i) noch verwendet, ‘Initj’ (Ї) schon nicht mehr. In der ukrainischen Sprache kommen beide bis heute vor.
‘Izhe’ (И — Иже), ist das rückbezügliche Fürwort, das ‘welcher, der’ bedeutet. Das I als Relativpronomen ist das persönlich Abzuwägende, selber zu verantwortende.
Ihzei (i — iжеи) ist das kosmische I, das wie ein Fluss aus der himmlischen Quelle, dem Punkt, entspringt und zur Erde fließt.
Initj (Ї — Їнить) wird so beschrieben:
Die Welt als gemeinschaftliches Seinsbild; die Verbindung mit Menschen, ihre spirituelle Kommunikation; Gemeinschaft, gemeinsame Sache, Arbeit; Leben in Einheit, Vereinigung der Menschen; Äußere Manifestation seiner selbst in der Gesellschaft; Beziehung, Zusammenschluss von zwei oder mehr Menschen; Der Weg der spirituellen Entwicklung; Evolutionäre Transformationszyklen im Universum.
Es ist ein Plural, weshalb ihm kein numerischer Wert zugeordnet wurde. Dieses I steht für harmonisches Zusammenleben, für die Fähigkeit einig zu werden und gemeinsame Dinge zu tun. Das zeigt noch der russische Ausdruck „Lass uns alle i‑Punkte setzen“, was so viel heißt wie „reinen Tisch machen“. Da es den Buchstaben Izhei mit einem Punkt und Їnitj mit zwei Punkten gab und diese Punkte immer am Ende gesetzt wurden, meint der Ausdruck „Punkte auf das i setzen“: die Sache zu ihrem logischen Schluss zu bringen. Der Ausspruch blieb, als die beiden Formen des I nicht mehr verwendet wurden.
Ein anderer Ausdruck besagt, dass man immer für drei Menschen denken, eine Sache aus drei Perspektiven ansehen muss. Und deshalb, so sagt man, gab es auch diese drei Buchstaben für das I. So konnte man die Aussage variieren, je nach dem mit welchem I man z.B. „Wahrheit“ (istina/истина), „Spiel“ (igra/игра) oder „Intrige“ (intriga/интрига) schrieb.
Am Beispiel von “Wahrheit” macht Evgenia Lackey deutlich, um welche Art von Wahrheit es sich jeweils handelt: “Schließlich gibt es eine persönliche subjektive Wahrheit (Istina geschrieben durch Izhe Иже), die jeder Mensch für sich hat; es gibt die kosmische Wahrheit (Istina geschrieben durch Izhei iжеи) – eine Wahrheit für alle (zum Beispiel, dass die Sonne morgens aufgeht); und es gibt die gemeinschaftliche Wahrheit (Istina geschrieben durch Їnitj Їнить), die in jeder Gemeinschaft, in jedem Volk anders ist.” (Telegrammkanal Yaginya)
Das bedeutet, in Russland wurde zwischen der subjektiven inneren Wahrheit, der objektiven äußeren Wahrheit und der in einer Gemeinschaft üblichen Interpretation des Zusammenwirkens von innerer und äußerer Wahrheit unterschieden — und das in Bezug auf alle Worte, in denen der Laut I vorkam.
Der keltische Name des I ist ‘Iogha’ oder ‘Ioia’ und bezeichnet die Eibe. Doch dieser Baum wurde auch im U erlebt und ‘Uir’ genannt. Das I ist der Vokal der ‘Linie’, der Verbindung zweier Zustände. Auch das U ist Vokal der Verbindung, doch unter dem Aspekt der vollzogenen Vereinigung, der ‘unio mystica’, der errungenen Einheit. Das Y kann als Übergang zwischen I und U betrachtet werden.
‘Iogha’, die Eibe, weist eine lautliche Nähe zum indischen Yoga auf, die mehr als Ähnlichkeit ist. Das I‑Thema der Verbindung lebt im Yoga durch dessen Anliegen, zwischen dem Nerven-Sinnessystem und dem Stoffwechsel-Gliedmaßensystem zu vermitteln mit Hilfe des Atems. Und das I ist dem Merkur und damit der Lunge zugeordnet. Das I, sagt Rudolf Steiner, ist “immer dasjenige, was das neutrale sich Fühlen ist zwischen dem Heraußenerleben und Drinnenerleben im Verhältnis zum Leibe.” (GA 279 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 199)
‘Yoga’ kommt von der Wurzel ‘yudsch’, die dem lateinischen ‘iungo’, ‘verbinden’ entspricht. Und altindisch ‘yugám’, lateinisch ‘iugum’ ist das ‘Joch’, das sich vom indischen ‘yugám’ herleitet. Das Joch selber ist ein Holz, geformt wie ein Bogen oder eine Brücke, um Lasten gleichmäßig verteilt tragen zu können. Im Yoga wurde das Ich-Gefühl vorbereitet, das in Form des Egos als Last empfunden werden kann.
‘Yoga’ bedeutet ‘Anspannung, Konzentration und praktisches Bemühen’, um das gewöhnliche Selbst mit dem höheren Selbst zu verbinden. Hatha Yoga, von ‘hatha’, ‘Kraft, Hartnäckigkeit, Gewalt’ ist eine Form des Yoga. Weiter wird ‘hatha’ als Ausdruck der Einheit entgegengesetzter Kräfte verstanden, von heiß und kalt, männlich und weiblich, positiv und negativ, Sonne und Mond. ‘Ha’ steht für die Sonne, für Kraft und Erhitzendes, ‘tha’ für den Mond, für Stille und Kühlung. Damit leuchtet die Verbindung als das Geheimnis der chymischen Hochzeit durch. Novalis sagt: “Die Ehe ist das höchste Geheimnis. Die Ehe ist bei uns ein popularisiertes Geheimnis.” (Fragmente, in Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 200) Mit Yoga wurde die Verbindung zur geistigen Welt gesucht. Indem das I Iogha, die Eibe genannt wird, wird es mit der Bedeutung der Rückverbindung, der Religion belegt.
Ernst Moll schreibt, dass ‘Iogha’, die Eibe (Taxus), der Ioga-Baum der alten Mysterien war. Die Eibe ist zweihäusig, das heißt, nur die weiblichen Bäume tragen die wie Blutstropfen rot leuchtenden Früchte, deren Fruchtfleisch das einzig Ungiftige an diesem Baum ist. Neben der Form mit G gibt es auch eine mit W: die ‘Eibe’ heißt kymrisch-keltisch ‘yw-en’ und bretonisch ‘ivin’, althochdeutsch ‘iwa’. Sehr ähnlich heißt slawisch ‘iva’, die ‘Weide’. Gewöhnlich wird unter dem Yoga- oder Budhi-Baum der Feigenbaum verstanden. Vielleicht ist das Wesentliche in allen drei Baumnamen, in Eibe, Weide und Feige, das hier der Mondenvokal ‘ei’ klingt und auf die alte Weisheit deutet. Nach dem Ei folgt jeweils ein anderer weicher Stoßlaut und verleiht dem Wort seine besondere Färbung: der Eibe im B umschließende Mütterlichkeit, der Feige im G schöpferisch-willsenshafte Kraft und der Weide im D hinweisende Qualität.
In den germanischen Sprachen ist der Name des I ‘Eis’, im gotischen Alphabet ‘Iiz’, im angelsächsischen ‘Is’ genannt. Der gotische Runenreim spricht von der verbindenden, Brücken bauenden Kraft des I, der angelsächsische von der kristallisierenden, Punktbildenden Kraft.
Eis nennen wir breite Brücke;
den blinden muss man führen. (gotisch)
Eis ist sehr kalt — und unmäßig glatt
es glänzt glasklar — und am ähnlichsten den Edelsteinen
eine Flur von Frost gewirkt,- schön anzusehen. (angelsächsisch)
(in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 186)
Eis und Wasser sind ein Gegensatz. Wie eine Insel taucht diese Ver-Ich-lichung, Verfestigung des Eises aus dem Wasser auf. Das Wasser ist das Element der Hingabe, das Eis behauptet sein Wesen, kristallklar, mit Ecken und Kanten. Das Eis ist die Insel, die aus dem Meer auftaucht. Das italienische Wort für Insel ist ‘isola’, was etymologisch von lateinisch ‘en sol’, ‘im Salz’, kommt. (Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 187)
Isis heißt in Ägypten die verwitwete Göttermutter. Isis bedeutet nach Ernst Bindel ‘Ich-Ich’. Interessanterweise ist das mit 9 I spiegelnde Mantra 44 s. Gemeinsam rahmen sie die Osterscholle, den Mond im Jahr ein. Gemeinsam bilden die Mantren Is, in der Wiederholung Isis. Die Qualität der Trennung, wie sie die Witwe verkörpert, klingt auch in ‘dividieren’, einem ‘Ver-inseln’ an.
Mit dem I steigt die Gigantenkraft des Lichtturms, des Ichs, aus dem Abgrund. Im Merkur-Vokal I kann der Vorgang des sich-Inkarnierens, des Einschießens in die feste Gestalt erblickt werden. In der Geraden des I wird der Weg der Metamorphose, der ‘Transitus’, sichtbar, der das himmlische Sein in das irdische verwandelt. Dies ist Isis, das Fließen der Zeit, denn so soll es über dem Eingang ihres Tempels zu Sais gestanden haben: “Ich bin die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft.”
Hier möchte ich drei unterschiedliche Gedanken über die Zeit anfügen, die alle die Qualitäten des I, der Isis ausdrücken. Jeweils erscheint die Zeit in dreifacher Gestalt. Sie zeigt dem Menschen drei Gesichter, die erst gemeinsam ihr wahres Sein erkennen lassen.
Als lineare Zeit hat sie Anfang und Ende, fließt wie ein Fluss und trägt die Entwicklung. Hier ist die Zeit die Gerade des I, die Brücke oder Verbindung. Aus dem Strom der Zeit sondert sich das Erleben der Gegenwärtigkeit ab, wie das Eis sich vom Wasser unterscheidet. Im Erleben der Gegenwärtigkeit scheint die Zeit stillzustehen, das Bild ist kristallin und klar. Es zeigt den Horizontkreis des Bewusstseins scharf abgegrenzt. Gegenwärtigkeit ist der Eis-Tropfen, das Erleben des I‑Punktes. Diesem zeitlich winzigen Moment, dem kleinsten Zeitraum, entspricht in der Form im Großen das Bild der zyklischen Zeit, der Jahreskreises — groß wie der Ozean. Dieser ist rein geistiger Natur, denn er muss im Denken erschaffen werden. Der Jahreskreis und auch der Tageszyklus wurden erlebt als mit der Sonne und dem Himmel verbunden. Das himmlische Wasser, der himmlische Ozean wird sichtbar in den Wolken, die aus Wasserdampf oder aus Schneekristallen bestehen. Die zyklische Zeit ist nicht nur Schleife, sondern auch dem Punkt verwandt. Sie ist seine Metamorphose zum Umkreis. Die zyklische Zeit ist Bild der Ewigkeit, des ewig Gleichen, unwandelbaren, himmlisch-vollendeten. So wundert es nicht, dass die himmlischen Wasser eben auch als gefrorene Wasser, als Schnee zur Erde fallen können, und damit sich dem Eis der Gegenwärtigkeit als verwandt erweisen. So können Gegenwärtigkeit und zyklische Zeit als zeitloser Anfangs- und Endpunkt betrachtet werden. Die lineare Zeit ist sowohl die Brücke, die Verbindung, die den einen Zustand in den anderen überführt, als auch die Gewähr für die allem Lebendigen innewohnende Entwicklung, denn jede aus ihr hervorgehende Gegenwärtigkeit ist einzigartig.
Mit jedem Gesicht, jeder Offenbarung der Zeit hängt eine Seelenfähigkeit zusammen: Die zyklische Zeit kann nur denkend erkannt werden. Der Jahreslauf als Zyklus ist nie als Ganzes sichtbar, sondern muss aus Erinnern und Vorausdenken im Bewusstsein erschaffen werden. Das Fühlen fließt mit der linearen Zeit. Indem die Bewusstseinsstrahlen nacheinander von der Quelle ausgesendet werden, treffen sie jeweils auf leicht veränderte Realitäten. Diese Quelle liegt zum einen im Menschen, zum anderen als gedachte Sonne im Zentrum des Jahreskreises. Jedes Mantra im Seelenkalender kann als Ausdruck eines individuellen Strahls dieser Zentrums-Sonne, jede Woche als Zeitspanne einer wirkenden Energie betrachtet werden. Gegenwärtigkeit entsteht gewöhnlich im Menschen nur, wenn sie gewollt wird. Sie ist Ergebnis einer Willensaktivität oder eines Erlebnisses, das dringend zu einer Handlung aufruft oder eine vorausgegangene Handlung in Frage stellt, wie ein Schock.
Drei Bilder der Zeit im Zusammenhang mit den drei Seelenfähigkeiten und den drei Aggregatzuständen des Wassers
Beim zweiten Gedanken schaue ich mehr auf das Zusammenwirken der drei Zeit-Bilder. Hier zeigen sich die zyklische und die lineare Zeit als die beiden Grundkräfte, die “Eltern” des Zeiterlebens. Indem die Zeit sowohl zyklisch als auch linear erlebt wird, bildet sich das spiralige Bild der stets individuellen Wiederholung des Jahres- oder Tageszyklus im Fortgang der äußeren Zeit. In der Gegenwärtigkeit als innerem Erleben der Zeit findet sich wie schon erwähnt die Form der zyklischen Zeit als (idealerweise) kreisrund ausgestrahlter Bewusstseinsraum wieder. Die lineare Zeit ermöglicht die Entstehung immer neuer, einzigartiger Gegenwärtigkeiten.
Und als Drittes kann die Osterscholle mit ihrem Anfang beim Mantra 44 s und ihrem Ende mit dem Mantra 9 I als Ausdruck der linearen Zeit betrachtet werden, das durch feste Daten und damit korrespondierendem Sonnenstand charakterisierte Sonnenjahr macht dagegen den zyklischen Charakter der Zeit sichtbar.
Über die Gegensprüche 9 I (großes i) und 35 i
Das Mantra 9 I ist das Mantra der Fronleichnamswoche. Fronleichnam, das Fest des Abendmahls, das immer donnerstags gefeiert wird, ist das letzte der an das Osterdatum gebundenen Feste. Dadurch endet die wie ein Mond im Sonnenjahr liegende und vom Lauf des Mondes bestimmte, aber vom Sonnenstand relativ unabhängige “Osterzeit” mit dieser Woche. Das Mantra 35 i ist stets das Mantra der ersten Adventswoche. Das kommt, weil das Mantra 38 m mit “Weihe-Nacht-Stimmung” überschrieben ist, weshalb es zur vierten Adventswoche gehört, in der die an das Datum des 24. Dezembers gebundene Heilige Nacht zu liegen kommt. Dadurch wird das Mantra 35 i zur ersten Adventswoche.
Mit dem Vorabend des ersten Advents beginnt das neue Kirchenjahr. Die beiden Wochen der I‑Mantren vereinen also Ende und Anfang. Die Woche 9 I ist das Ende der vor- und nachösterlichen Zeit, die (nach meiner Meinung) vor Ostern nicht nur von Aschermittwoch an sieben Wochen, sondern ebenso neun Wochen umfasst wie die nachösterliche Zeit — und damit zusammen 18 Wochen — rund ein Drittel des ganzen Jahres. Mit dem Beginn der Adventszeit und des neuen Kirchenjahres ist die Woche 35 i die Woche des Anfangs. Diese Mantren verkörpern deshalb im Besonderen die Qualität des Anfangs- und Endpunktes.
Im Mantra 9 I wird der Prozess des Sterbens beschrieben (siehe Blog zum Mantra 9 I und zu den Spiegelsprüchen 9 I — 44 s). Die Verben in der Verlaufsform (vergessend, sommerkündend) deuten an, dass dieser Endpunkt, der das Ablegen des physischen Leibes charakterisiert, noch nicht erreicht ist. Vielmehr ist die Willenseigenheit, die kristalline Abgegrenztheit des Bewusstseins in der Gegenwärtigkeit, in der Mensch und Welt einander gegenüberstehen, im Begriff, vergessen zu werden. Ein wärmeres, lichtvolleres und ganzheitlicheres Bewusstsein kündigt sich an. Weltenwärme, die die Lichtfülle des Sommers verkündet, erfüllt Geist und Seelenwesen. Hier gibt es keine Dualität mehr. Das Geistesschauen gebietet dem Ich-Sprecher, sich im Licht zu verlieren. Die irdische Identität soll verloren werden, um eine neue zu finden, die noch nicht da ist, von der die Ahnung aber schon kraftvoll kündet. Geistesschauen, also Imaginationen, erschaffen sich durch Gedankenbilder. Der Jahreskreis mit der Quelle der Zeit als Sonne im Zentrum ist solch eine Imagination. In ihrem Licht kann der Mensch seine mit der Persönlichkeit zusammenhängende Individualität verlieren, denn diese Sonne ist überindividuell. Sie strahlt für die ganze Menschheit. Sie trägt als Zeit im oben dargestellten Sinne die ganze Menschheit in einer Echtzeit. Niemand kann gestern oder morgen leben.
Der Ich-Sprecher des Mantras 9 I sucht vom Punkt der Gegenwärtigkeit über den Lichtstrahl der I‑Linie das überindividuelle Bewusstsein, welches Einheits‑, Jahreslauf- oder Tierkreis-Bewusstsein heißen könnte. Rudolf Steiner sagt: „Wenn man verstehen wird mit dem Jahreslauf zu denken, dann werden sich in die Gedanken diejenigen Kräfte mischen, welche den Menschen wiederum Zwiesprache werden halten lassen mit den göttlich-geistigen Kräften, die sich aus den Sternen offenbaren, dann werden sie … menschliches Denken an Götterdasein knüpfen“ (GA 223, Vortrag vom 1.4. 1923).
Und Rudolf Steiner sagt auch, dass sich die Präsenz der Seelen Verstorbener bis in die Tierkreissphäre ausdehnt, bevor sie sich für eine neue Inkarnation wieder zusammenzieht.
Ganz anders steht der Ich-Sprecher des Mantras 35 i der Welt, dem Sein, gegenüber. Rudolf Steiner sagt: „‘Sein‘ ist von ‚sehen‘ hergenommen, kommt überhaupt vom ‚Sehen‘ her. Was mit dem Seinsbegriff belegt wird, von dem wird nichts anderes gesagt als: ich habe es einmal gesehen. Alles sonstige Gerede über das Sein ist Verständigung über das, was einmal gesehen worden ist.“ (GA 157 in: Ernst Moll, Die Sprache der Laute, S. 112f) Hier wird also gefragt, ob ich wirklich sehen kann. Und das bedeutet, sich dem Sein erkennend gegenüberzustellen — nicht mit ihm zu verschmelzen.
Seins-Erkenntnis ist gefragt, Erkenntnis des Seins, die dann handlungswirksam werden kann. Das erkannte Sein soll sich im Seelenschaffensdrang wiederfinden. Das Sein, das Gewordene soll sich im Werdenden, im Schaffensdrang der Seele widerspiegeln. Das Große, die äußere Welt, soll sich in der Innenwelt der Seele wiederfinden, darin repräsentiert sein. Erkenne ich in der Gegenwärtigkeit das kleine Äquivalent zum großen Jahreskreis, so erkenne ich das Sein so, dass es in der Seele repräsentiert ist.
Nur in der Gegenwart, unabhängig davon, ob in bewusster Gegenwärtigkeit oder in unbewusster Rührigkeit, kann gehandelt werden. Der Seelenschaffensdrang ist mit dieser Gegenwart also zwingend verbunden. Im Mantra fragt sich der Ich-Sprecher also, ob er den Zusammenhang findet zwischen der großen Geist-Sonne im Zentrum des Jahreskreises, dem Sein, mit seinem sonnenhaft ausstrahlenden, im Leben handelnden Bewusstsein. Diese Erkenntnis lässt ihn fühlen, dass ihm Macht verliehen ist. Das eigene, so gefundene (Geist-)Selbst kann dem Weltenselbst, der geistigen Sonne, als ein Glied eingelebt werden. Die Grenzen der eigenen Gegenwärtigkeit gewinnen dadurch bleibende Bedeutung, das Sterben der Gegenwärtigkeit überdauerndes Leben, indem das eigene Bewusstseinslicht dem Licht des Weltenselbst hinzugefügt wird. Das kann wahrlich als ein Neuanfang betrachtet werden. Und durch dieses Einleben, dieses Hinzufügen des menschlichen Selbst zum Weltenselbst verändert sich auch dieses Weltenselbst. Die Seinszustände der aufeinander folgenden Runden des Jahreskreises unterscheiden sich deshalb fortlaufend voneinander. Mit einem neuen Zyklus wird deshalb tatsächlich auch ein neuer geistig-irdischer Raum, ein neuer Zeitraum betreten.
Das Mantra 35 i geht vom Sein, dem großen Jahreskreis, der Raum gewordenen Zeit aus und führt mit dem Seelenschaffensdrang zur linearen Zeit, denn der Seelenschaffensdrang kann sich nur nach und nach, Schritt für Schritt, Tat für Tat verwirklichen. Dazwischen steht das individuelle Erkennen in Gegenwärtigkeit. Inhalt dieser Seins-Erkenntnis ist die Entsprechung des kleinen Gegenwärtigkeits-Zeitraumes mit dem großen urbildlichen Seelenraum des Jahreskreises. Das eigene Selbst und das Weltenselbst rufen dagegen wieder runde, zyklische innere Bilder hervor — jedenfalls in mir.
Das I ist die Brücke, die Verbindung und Rückverbindung im Mantra 9 I, im Prozess des Sterbens, wenn die Willenseigenheit vergessen wird, wenn es darum geht, sich im Licht — im I — zu verlieren, um sich zu finden. Und das I ist im Mantra 35 i auch die Spannung zwischen dem Ich-Sprecher und dem Sein, das erkannt werden soll, damit diese Erkenntnis sich im Seelenschaffensdrang wiederfinden kann. Auch wenn das eigene Selbst Glied vom Weltenselbst, also vom höheren Selbst werden darf, wirkt das I als die Macht dieser Vereinigung.
Ergänzung
Sein und Nicht-Sein
Das Mantra 35 i thematisiert das Sein, das Mantra 9 I dagegen das Nicht-Sein. Diese zusammengehörige Widersprüchlichkeit erörtert Rudolf Steiner philosophisch wie folgt:
„Aber es ist, ich möchte sagen, mit diesen Kräften, indem sie den Menschen zustande bringen, etwas ganz ähnliches, wie es mit den alten Keimen einer Pflanze ist: Wenn die neue Pflanze hervorgekommen ist, dann hat der alte Keim seine Aufgabe erfüllt; er beansprucht nicht mehr, als eine Pflanze hervorzubringen. Diese Pflanze wird aufgerufen durch den Kosmos wieder einen Keim hervorzubringen. Sonst wäre keine weitere Entwickelung da, und das Pflanzenleben hätte abreißen müssen mit dieser Pflanze. So müßte, wenn hier nicht das Bilderbewußtsein auftauchen würde, das Menschenleben abschließen mit der Erneuerung des Lebens zwischen Geburt und Tod. Dies, was da als Bild der Welt erscheint, das ist der neue Keim, der nun durch den Tod geht und eben wiederum durch den Tod in ein neues Leben hinübergeht. Und dieser Keim, er ist nun wirklich so, daß er nichts von dem alten Realen hinüberbringt, sondern daß er beim Bilddasein, beim Nichts beginnt, wirklich in bezug auf die Realität, auf die äußere Realität beim Nichts beginnt.
Bitte fassen Sie hier einen Gedanken, der von ungeheurer Bedeutung ist. Denken Sie sich einmal, Sie stehen der Welt gegenüber. Nun gut, die Welt ist da, Sie sind auch da. Sie sind aber aus der Welt hervorgegangen, die Welt hat Sie geschaffen, Sie gehören zur Welt dazu. Nun soll es weitergehen, das Leben. In dem, was als Wirklichkeit in Ihnen ist, was die Welt in Sie hineingesetzt hat — diese Welt, die Sie anschauen innerhalb des physischen Planes -, da ist nichts, was das Leben weiterführen kann. Aber etwas kommt hinzu: Sie schauen die Welt an, machen sich ein Bild, und dieses Bild gewinnt die Kraft, Ihr Dasein hinauszutragen in weitere unendliche Fernen. Dieses Bild wird zum Keim der Zukunft.
Wenn man das nicht bedenkt, dann wird man niemals begreifen, daß neben dem Satze: Aus Nichts wird nichts -, auch der andere Satz seine volle Richtigkeit hat: Im tiefsten Sinne wird das Dasein stets aus dem Nichts erzeugt. — Beide Sätze haben ihre volle Richtigkeit; man muß sie nur an der richtigen Stelle anwenden. Die Kontinuität des Daseins hört damit nicht auf. Wenn Sie, sagen wir, am Morgen aufwachen würden und würden finden, daß gar nichts übrig geblieben wäre physisch von Ihnen — so ist es in der Tat, wenn man einer neuen Geburt entgegengeht -, aber nur die volle Erinnerung hätten an dasjenige, was geschehen wäre, also bloß Bild hätten, so würden Sie ja ganz zufrieden sein. Tiefere Geister haben selbstverständlich solche Dinge immer gefühlt. So wenn Goethe die zwei Dichtungen nebeneinandergestellt hat: «Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen», und unmittelbar vorangegangen war das Gedicht, das den Sinn hat: «Alles muß in Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will.» [siehe unten, A.F.] Diese beiden Gedichte stehen ja bei Goethe als scheinbarer Widerspruch ganz beieinander, unmittelbar hintereinander.
Aber für die gewöhnliche Philosophie liegt hier eine Klippe vor, weil sie eben tatsächlich aufsteigen muß in die Negation des Seins.
Nun könnte man wieder die Frage aufwerfen: Was spiegelt sich denn da eigentlich, wenn das alles, was sich hier spiegelt, nur die Weltgedanken sind? Wie ist man dann eigentlich sicher, daß man da draußen in der Welt eine Wirklichkeit hat? Und da kommt man hin zu der Notwendigkeit, anzuerkennen, daß eben durch das gewöhnliche menschliche Bewußtsein überhaupt die Wirklichkeit nicht verbürgt werden kann, sondern daß die Wirklichkeit nur verbürgt werden kann durch jenes Bewußtsein, welches in uns selber heraufsteigt in die Regionen, wo die Imaginationen sind, und man hinter den Charakter der Imaginationen kommt. Dann findet man, daß da draußen in der Welt, hinter dem, was ich als grün angedeutet habe, eben nicht bloß Weltgedanken sind, daß diese Weltgedanken die Ausdrücke sind für die Weltenwesen. Aber sie sind durch die Weltgedanken verschleiert, so wie das menschliche Innere verschleiert ist durch den Inhalt des Bewußtseins. Also wir schauen in die Welt; wir vermeinen, die Welt zu haben in unserem Bewußtsein: da haben wir das Nichts, ein bloßes Spiegelbild. Dasjenige was sich spiegelt, sind selber nur Weltgedanken. Diese Weltgedanken aber gehören realen, wirklichen Wesenheiten an, den Wesenheiten, die wir eben als geistigseelische Wesenheiten kennen, als Gruppenseelen der niederen Reiche, als die Menschenseelen, als die Seelen der höheren Hierarchien und so weiter.“ (Lit.: GA 162, S. 32 – 34)
Die beiden in der Mitte des Zitats von Rudolf Steiner erwähnten Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe lauten:
9 I entsprechend:
Eins und Alles
Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst’gem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuß.
Weltseele, komm’ uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich’s nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges lebend’ges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht’s Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
…
35 i entsprechend:
Vermächtnis
Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!
Das Ew’ge regt sich fort in allen,
Am Sein erhalte dich beglückt!
Das Sein ist ewig: denn Gesetze
Bewahren die lebend’gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Das Wahre war schon längst gefunden,
Hat edle Geisterschaft verbunden;
Das alte Wahre, fass es an!
Verdank’ es, Erdensohn, dem Weisen,
Der ihr, die Sonne zu umkreisen,
Und dem Geschwister wies die Bahn.
Sofort nun wende dich nach innen,
Das Zentrum findest du dadrinnen,
Woran kein Edler zweifeln mag.
Wirst keine Regel da vermissen:
Denn das selbständige Gewissen
Ist Sonne deinem Sittentag.
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle sicher wie geschmeidig
Durch Auen reichbegabter Welt.
Genieße mäßig Füll und Segen,
Vernunft sei überall zugegen,
Wo Leben sich des Lebens freut.
Dann ist Vergangenheit beständig,
Das Künftige voraus lebendig,
Der Augenblick ist Ewigkeit.
Und war es endlich dir gelungen,
Und bist du vom Gefühl durchdrungen:
Was fruchtbar ist, allein ist wahr;
Du prüfst das allgemeine Walten,
Es wird nach seiner Weise schalten,
Geselle dich zur kleinsten Schar.
Und wie von alters her im stillen
Ein Liebewerk nach eignem Willen
Der Philosoph, der Dichter schuf,
So wirst du schönste Gunst erzielen:
Denn edlen Seelen vorzufühlen
Ist wünschenswertester Beruf.