Zur Entstehungsgeschichte des Seelenkalenders und den Ausgaben von 1912 und 1925

… Es gibt hin­ter diesem bekan­nten Spruch-See­lenkalen­der noch einen unent­deck­ten, der sich in der Struk­tur des Gesamtwerks ver­birgt. Wie schon beschrieben, ist der See­lenkalen­der mit regelmäßig ange­ord­neten Spiegel- und Gegen­sprüchen aber auch mit Aus­nah­men aus­ges­tat­tet. Diese Struk­turen zeigen eine Architek­tur des See­len­raums, in dem Fühlen, Denken und Wille leben. Aber auf der Suche nach der Bedeu­tung hin­ter diesen Spruch-Beziehun­gen, wie sie weit­er vorne dargestellt sind, gibt es eine Hürde zu über­winden. Denn die bei­den immer neu aufgelegten See­lenkalen­der Aus­gaben gle­ichen sich hin­sichtlich der Buch­staben-Spruch-Zuord­nung nicht. Das führt zu ein­er Rei­he ander­er Gegen­spruch-Kom­bi­na­tio­nen, was diese beliebig wer­den lässt.

Dadurch stell­ten sich die Fra­gen nach dem Sinn dieser Struk­turen noch ein­mal neu: Warum zeigen die Sprüche gram­ma­tis­che Entsprechun­gen? Wozu gab Rudolf Stein­er ihnen neben der fort­laufend­en Num­mer zur Verdeut­lichung ihrer Rei­hen­folge auch noch einen Buchstaben?

 

Vergleich der beiden Seelenkalender-Ausgaben 1912/13 und 1925/26 – ein kleiner Unterschied mit großer Wirkung

In der 1912/13 erschiene­nen Erstaus­gabe, deren Struk­turen weit­er oben einge­hend dargestellt sind, gibt es für jede Regelmäßigkeit zwei Aus­nah­men: Es gibt zwei Sprüche ohne Buch­staben, die dadurch keinen Gegen­spruch haben, zwei Sprüche, die keine gram­matikalis­chen Entsprechun­gen aufweisen und dadurch nicht spiegeln und zwei Sprüche, die sowohl Gegen- als auch Spiegel­spruch füreinan­der sind. Das ist in der späteren Aus­gabe anders.

 

Die Seelenkalender-Ausgabe 1925/26

Als die Aus­gabe 1925/26 vor­bere­it­et wurde, war Rudolf Stein­er schon tod­krank. Auf seinem Ster­be­lager gestal­tete er den blauen Ein­band mit den Ster­nen, der sei­ther jede Aus­gabe ziert. Auch die Zuord­nung der Buch­staben zu den Sprüchen wurde verän­dert. Aus welchem Grund, und von wem diese Verän­derung vorgenom­men wurde, muss offen­bleiben. Ich beschreibe lediglich die Unter­schiede phänom­e­nol­o­gisch und frage nach den Auswirkungen.

Die Sprüche 12 und 51 der Aus­gabe 1912/13 tra­gen keinen Buch­staben (von mir durch ein Aus­rufeze­ichen verse­hen). Nun heißen sie 12 M und 51 y. Sprüche ohne Buch­staben gibt es nicht mehr. Um das zu erre­ichen, wurde nicht, wie es nahe liegen würde, das bish­er über­sprun­gene <J> ergänzt, son­dern die Buch­staben M bis S wur­den um eine Posi­tion ver­schoben. Vor dem T wurde ein St einge­fügt, so dass der Spruch 19 S zu 19 St wurde (und im Win­ter-Hal­b­jahr der Spruch 45 t zu 45 st). (Wie schon erwäh­nt, kennze­ichne ich die Sprüche des Win­ter-Hal­b­jahres wegen der ein­facheren Hand­habung mit kleinen Buch­staben. Dies erset­zt den im Orig­i­nal vorhan­de­nen Quer­strich darüber.) Dadurch wur­den im Som­mer-Hal­b­jahr alle Buch­staben der Sprüche 13 — 19 um eine Posi­tion ver­schoben. Aus 12 ohne Buch­staben wird so 12‑M; aus 13‑M wird 13‑N; aus 14‑N wird 14‑O usw. Im Win­ter-Hal­b­jahr wurde eben­falls zwis­chen s und t ein st einge­fügt. Dadurch wer­den alle Buch­staben der Sprüche 45 – 50 um eine Posi­tion ver­schoben. Aus 51 ohne Buch­staben wird 51‑y; aus 50‑y wird 50‑x; aus 49‑x wird 49‑w usw. Das bedeutet, dass im Ver­gle­ich zur Erstaus­gabe im Som­mer-Hal­b­jahr acht Sprüche andere Buch­staben tra­gen und im Win­ter-Hal­b­jahr sieben. Da Sprüche mit gle­ichem Buch­staben als zusam­menge­hörige Gegen­spruch­paare betra­chtet wer­den, ergeben sich dadurch 14 verän­derte Spruch­paare — über die Hälfte der möglichen 26. Die durch gram­matikalis­che Entsprechun­gen bewirk­te Zusam­menge­hörigkeit der Spiegel­sprüche bleibt davon unberührt.

Abbildung
Die Buchstaben-Zuordnung der beiden Seelenkalender-Ausgaben im Vergleich
Außen: Spruch-Nummer und Buchstabe der Ausgabe 1912/13
Innen: Spruch-Nummer und Buchstabe der Ausgabe 1925/26 (die umbenannten Sprüche sind türkis hervorgehoben, die betroffenen Gegensprüche orange markiert) (Darstellung innen aus dem Nachwort von Michael Debus zur Sonderausgabe: Die Wochensprüche des Anthroposophischen Seelenkalenders im Doppelstrom der Zeit beider Hemisphären 1998, S. 120f)

Konsequenzen:

Zeich­net man Verbindungslin­ien zwis­chen den spiegel­nden Sprüchen und denen mit gle­ichem Buch­staben, so ergeben sich in der See­lenkalen­der­aus­gabe von 1925/26 immer geschlossene Sys­teme aus eck­i­gen Lem­niskat­en. Die vier beteiligten Sprüche haben immer den gle­ichen Abstand zur Hal­b­jahress­chwelle. Färbe ich den Bere­ich, den sie abdeck­en, erhalte ich Rechtecke, die sich nur nach ihrer Lage und Pro­por­tion unterscheiden.

Abbildung
Die Beziehungen der Sprüche in der Seelenkalender-Ausgabe von 1925/26
Es entstehen stets geschlossene Systeme, die in ihren Proportionen variieren.
(Die Beispiele sind stellvertretend für alle anderen gewählt)

Ganz anders ist es im See­lenkalen­der der Erstaus­gabe (1912/13). Durch die schon erwäh­n­ten Aus­nah­men kann ich staunend fest­stellen, dass ver­schiedene Struk­turen entste­hen, über die ich nach­denken kann — ganz in dem Sinne, wie Rudolf Stein­er es im fol­gen­den Zitat zur Gewin­nung der Imag­i­na­tion angibt.

„Für die abendländis­che Zivil­i­sa­tion ist der Weg in die übersinnlichen Wel­ten der der Imag­i­na­tion. … Dieser Weg … kann so vol­l­zo­gen wer­den, … dass man ver­sucht, sich ganz der äußeren phänom­e­nol­o­gis­chen Welt hinzugeben, diese unmit­tel­bar auf sich wirken zu lassen mit Auss­chluss des Denkens, aber so, dass man sie doch aufn­immt. …, dass man wirk­lich im streng­sten Sinne sich her­an­erzieht zu dem, was ich charak­ter­isiert habe als den Phänom­e­nal­is­mus, als das Dur­char­beit­en der Phänomene. …, wenn man die Begriffe ver­wen­det hat, um die Phänomene anzuord­nen, um die Phänomene hin zu ver­fol­gen bis zu den Urphänome­nen, dann bekommt man dadurch schon eine Erziehung, … hat man sich gewöh­nt, kon­tem­pla­tiv lange und immer länger auf einem Bilde, das man ganz durch­schaut, … zu ruhen, und wieder­holt man diesen Vor­gang immer wieder und wiederum, so ver­stärkt sich die innere See­lenkraft, und man wird zulet­zt gewahr, dass man in sich sel­ber etwas erlebt, von dem man vorher eigentlich keine Ahnung gehabt hat“ (Rudolf Stein­er, GA 322, Gren­zen der Natur­erken­nt­nis, 8. Vor­trag, 3.10.1920, Aus­gabe 1939, S. 93ff).

Schauen wir nochmal genau hin: Erstens haben die Sprüche 12 und 51 keinen Buch­staben, wodurch sie keinen Gegen­spruch haben (sie sind von mir stattdessen mit einem Aus­rufeze­ichen verse­hen), zweit­ens weisen die Sprüche 26 Z und 27 a keine gram­ma­tis­chen Entsprechun­gen auf, sie spiegeln also nicht, obwohl sie es der Anord­nung nach müssten und drit­tens sind die Sprüche 14 N und 39 n sowohl Gegen- als auch Spiegel­sprüche füreinander.

Verbinde ich hier jeden Fühlspruch mit seinem Spiegel- und Gegen­spruch durch einen gedacht­en „Faden“, und set­ze dies stetig fort, weil ja jed­er Spruch auch Fühlspruch ist, entste­hen (bis auf eine Aus­nahme) keine Rechtecke, son­dern Gewebe. Der „Faden“ begin­nt oder endet jew­eils bei ein­er der Aus­nah­men. Vier „Fäden“ entste­hen so, wie die Abbil­dung zeigt.

Abbildung
Die Beziehungen der Sprüche in der Seelenkalender-Ausgabe von 1912/13
Die vier verschiedenen „Fäden“, je zwei in einem Kreis dargestellt.
Sie ergeben sich durch die Ausnahmen, denn hier endet der „Faden“ jeweils:
braun: 26‑Z und 27‑a spiegeln nicht
blau: 12-! Und 51-! haben wegen des fehlenden Buchstabens keinen Gegenspruch
lila: 14‑N und 39‑n sind sowohl Spiegel- als auch Gegenspruch füreinander
rot: 13 M, 38 m und 15 O, 40 o sind zu einem geschlossenen System verbunden

Ob sich in diesen „Fäden“ die Gewebe, die Klei­der des geisti­gen Men­schen, d.h. seine Wesens­glieder erken­nen lassen, möge jed­er Leser für sich über­legen. Deut­lich wird jedoch, dass der See­lenkalen­der von 1912/13 ger­ade durch seine Aus­nah­men eine viel aus­sagekräftigere, lebendi­gere Bil­dung aufweist. Nur auf den ersten Blick ver­wirrt ger­ade die Vielzahl der darin enthal­te­nen Geheimnisse.